322. Der Maibaum

Der Maibaum

Es waren die letzten Tage im April. Feierlich wurde ein riesiger Baumstamm von zehn jungen Männern in das Dorf getragen.
»Der Maibaum ist da. Los kommt alle her und seht ihn euch an.«
Malte war ganz aufgeregt, denn es war das erste Mal, dass er sich dieses Spektakel anschauen durfte.
Seinen Worten folgten unzählige Kinder, die nun die Straße hinab liefen. Kaum waren sie angekommen, konnten sie zuschauen, wie die Männer den Baum kunstvoll mit Seilen aufrichteten.
Da stand er nun. Viele Meter hoch. Ganz oben waren bunte Bänder befestigt, deren Enden nun von jungen Frauen gepackt wurden. Damit tanzten sie immer wieder im Kreis um den Baum herum, bis der gesamte Stamm eingewickelt war.
Der Bürgermeister besah sich das alles und war zufrieden.
»Liebe Bewohner unseres Dorfes, liebe Freunde.«, begann er seine kurze Rede.
»Es ist mal wieder so weit. Am heutigen Tag wurde der Maibaum aufgestellt. Doch bis der Wonnemonat beginnt, dauert es noch drei Nächte, in denen viel geschehen kann. In den letzten Jahren haben die Junggesellen unserer Heimat den Baum erfolgreich gegen die Diebe aus der Nachbarschaft verteidigen können. Doch das sollte uns nicht zu sicher machen. Daher sind nun Freiwillige gesucht, die Wache schieben wollen.«
Schnell waren eifrige Helfer gefunden. Sie hatten sich schon gut vorbereitet. Auf einem Bollerwagen lag ein Zelt und jede Menge Brote zum Essen.
Damit war dann auch der Bürgermeister zufrieden.

Am Abend verschwand die Sonne hinter dem Horizont. Es wurde dunkel und die Wachen setzten sich mit aufmerksamen Augen vor den Maibaum. Sie rechneten nicht damit, dass sie so früh bestohlen werden würden, doch schon nach wenigen Minuten hörten sie ein Rascheln in einem nahen Busch.
»Wer ist da? Komm sofort heraus und zeig dich.«, rief einer von ihnen.
Zum Vorschein kam Malte.
»Ich wollte den Baum nicht klauen. Ich möchte ihn mit euch zusammen bewachen.«
Da mussten sich die jungen Männer vor lachen die Bäuche halten.
»Du willst den Maibaum bewachen? Du bist doch gar nicht schnell genug dafür.«
Sie nahmen den Jungen mit ans Lagerfeuer und erklärten ihm, wie man den Baum stehlen konnte.
»Wir werden die nächsten drei Nächte Wache schieben. In dieser Zeit werden Burschen aus den anderen Dörfern hier herum schleichen und versuchen, uns abzulenken. Wenn dies geschieht, müssen sie dreimal mit einem Spaten gegen den Baum schlagen. Dann gilt dieser als gestohlen und sie dürfen ihn mitnehmen. Wir können das nur verhindern, indem wir eine unserer Hände an den Baum legen.«
Malte klopfte sich mutig vor die Brust.
»Das schaffe ich.«
Doch die jungen Männer glaubten ihm nicht und lachten erneut.
»Ich werde es euch schon beweisen.«, rief Malte, bevor er den Dorfplatz verließ.

Die ersten beiden Nächte waren sehr ereignislos. Es ließ sich niemand aus den anderen Dörfern blicken. So nahmen die jungen Männer an, dass es auch in der letzten Nacht ruhig bleiben würde.
Die meisten von ihnen hatten sich ins warme Zelt zurück gezogen und schliefen. Nur noch einer von ihnen hielt Wache.
Irgendwann tief in der Nacht erschien eine junge, hübsche Frau auf dem Dorfplatz. Sie bot dem Wachmann etwas zu essen und zu trinken an. Sie redeten und lachten viel zusammen.
»Magst du mit mir vielleicht einen kleinen Spaziergang machen?«, fragte sie.
Der junge Mann wurde nervös und sah sich um.
»Ich kann hier eigentlich nicht weg. Ich muss auf den Baum aufpassen.«
Doch dann ließ er sich doch überreden. Es war schließlich kein Dieb zu sehen.
»Aber wir bleiben auf dem Dorfplatz.«, bat er seine hübsche Begleiterin.
So wanderten sie im Kreis herum, an den Kaufläden vorbei, redeten und lachten.
Plötzlich stürmten zehn wackere Burschen aus einer Seitenstraße heraus. Sie alle hatten Spaten in der Hand und liefen auf den Maibaum zu.
»Alarm.«, rief der Wachmann verzweifelt, ließ das schöne Fräulein stehen und rannte so schnell er nur konnte. Doch da wusste er bereits, dass alles zu spät war. Er hatte sich ablenken lassen. Nur Sekunden später klopfte es dreimal gegen den Baumstamm.
»Dann werden wir mal unserer Pflicht nachkommen und euren Maibaum mit uns nehmen.«, sagte einer der Burschen.
»Ihr könnt euch dann ja später überlegen, gegen was ihr ihn eintauschen wollt.«
Doch da hörten sie plötzlich ein leises Kichern aus dem Busch neben dem Baum. Neugierig sahen sie darunter und entdeckten Malte, der seine kleine Hand auf dem Maibaum liegen hatte.
»Das habt ihr euch wohl gedacht. Aber wir haben immer ein As im Ärmel und lassen uns nicht so einfach bestehlen.«
Und so mussten die Burschen aus dem Nachbardorf sieglos nach Hause gehen.
Malte hingegen wurde am nächsten Tag vom Bürgermeister gelobt. Er war der Held des Maifestes.

(c) 2009, Marco Wittler

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