500. Die kleine Geschichte

Die kleine Geschichte

Die kleine Geschichte stand mit vielen anderen in einem dicken, verstaubten Buch in einem großen Regal. Die Menschen, die hier jeden Tag ihre Zeit verbrachten, liefen hin und her, blätterten in den Büchern und übersahen dabei immer wieder die kleine Geschichte.
»Ich wurde geschrieben, um gelesen zu werden. Ich bin viel zu kostbar. Mich darf man nicht einfach übersehen.«
Also sprang sie aus ihrem Buch hervor und machte sich auf den Weg. Unterwegs begegnete sie vielen unterschiedlichen Menschen. Da waren Eltern, Großeltern, Lehrer, Buchdrucker und mehr. Jeder von ihnen konnte eine kleine Geschichte gut gebrauchen. Trotzdem zeigte nicht ein einziger an ihr Interesse.
»Für Geschichten habe ich keine Zeit.« oder »Geschichten will doch niemand mehr hören.« sagten sie und lehnten es ab, die kleine Geschichte mit nach Hause zu nehmen.
Die kleine Geschichte wurde langsam traurig. War es tatsächlich so, wie man es ihr gesagt hatte? Wollte wirklich niemand mehr Geschichten hören oder lesen?
Schon wollte sie ihren Traum aufgeben und in ihr staubiges Buch zurück, als ihr ein alter, bärtiger Mann auf die Schulter klopfte.
»Du suchst eine neue Bleibe, in der man sich so um dich kümmert, wie es einer guten Geschichte gebührt?« fragte er. »Dann komm mit zu mir nach Hause. Ich lade dich ein, bei mir zu leben. Ich werde mich auch immer gut um dich kümmern. Ich bin nämlich ein Geschichtenerzähler. Meine Aufgabe ist es, dem Menschen Geschichten zu erzählen und vorzulesen. Es hören mir leider nicht mehr viele von ihnen zu, aber für die Wenigen, die zu mir kommen, lohnt es sich immer.«
Er lächelte die Geschichte an, reichte ihr die Hand und nahm sich mit nach Hause. Dort konnten die Menschen nun jeden Tag die Geschichte von der kleinen, glücklichen Geschichte hören, die sich aufgemacht hatte, um nicht vergessen zu werden. Und jeden Tag kamen mehr Zuhörer zum alten Geschichtenerzähler, die mit offenen Mündern seinen Worten lauschten.

(c) 2014, Marco Wittler

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