Das unendliche Sternenmeer
Hallo Oma Sonne.
Dies ist nun mein allererster Brief aus dem unendlichen Sternenmeer an Dich. Ich vermisse Dich hier sehr, denn es ist oft sehr dunkel, kalt und einsam.
Das Sternenmeer ist so unendlich groß, dass man oft von einer Welt zur nächsten sehr lange reisen muss. Alleine macht das keinen Spaß. Zum Glück habe ich immer meinen kleinen Mond dabei, der mir etwas die Zeit vertreibt.
Eigentlich ist dies gar nicht mein erster Brief an Dich. Es ist schon der Zweite. Der erste hat Dich leider nie erreicht. Aber ich fange mal lieber von vorne an.
Zu Beginn meiner langen Reise befestigte ich mein großes Segel an den Spitzen meines kleinen Mondes. Er hatte vorher extra eine Diät gemacht, denn an einem Viertelmond halten Knoten viel besser als an einem Vollmond. Ich finde, dass er jetzt viel zu dünn aussieht, auch ist er ziemlich blass um seine dicke Nase geworden. Anders geht es aber leider nicht. Vielleicht fällt uns irgendwann noch etwas Besseres ein, um durch das Sternenmeer zu reisen.
Eine ganze Woche lang hatte mein kleiner Mond die Backen voll gemacht und uns durch die Unendlichkeit gepustet. So lange dauerte, bis wir bei einer anderen Sonne eine neue Welt entdeckten.
Dort angekommen, ließ ich meinen kleinen Mond unter einem großen Baum zurück. Ich wollte mich ein wenig umsehen. Es dauerte eine Weile, bis ich endlich die Wiesen und Wälder dieser Welt hinter mir gelassen hatte und auf ein paar Menschen traf.
Sie sahen ziemlich seltsam aus. Jeder von ihnen trug einen schwarzen Mantel am Körper, einen schwarzen, spitzen Hut auf dem Kopf und einen langen, weißen Bart im Gesicht, der fast bis zum Boden reichte. Sie sahen sich so ähnlich, dass sie alle Geschwister hätten sein können.
Ich machte es mir auf dem Rand eines Brunnens gemütlich und sah ihnen eine Weile zu. Diese Menschen waren wirklich sehr ungewöhnlich, denn sie taten die ganze Zeit Dinge, die ich für unmöglich hielt.
Die einen schwebten eine Hand breit über dem Boden dahin, andere verschwanden von einem Augenblick zum nächsten und wieder andere ließen plötzlich alle möglichen und unmöglichen Dinge in ihren Händen erscheinen. Wenn ich das alles nicht mir eigenen Augen gesehen hätte, ich würde es mir selbst nicht glauben.
Irgendwann sprach ich einen von ihnen an und fragte, wie das alles gehen würde. Dadurch erfuhr ich, dass ich auf der Welt der Zauberer gelandet war. Jeder Mensch konnte magische Dinge tun.
Die einen konnten schweben, die anderen Dinge erscheinen lassen und wieder andere konnten sich selbst verschwinden lassen. Es gab noch viel mehr, was sie konnten, das würde nicht in meinen Brief passen. Jeder Zauberer hatte eine andere Begabung. Und jeder wollte mir zeigen, was er konnte. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie unterhaltsam das war. Ich hätte dabei fast die Zeit und meinen kleinen Mond vergessen.
Irgendwann verabschiedete ich mich von den Zauberern und ging zurück zum großen Baum.
Dort fand ich auch meinen kleinen Mond wieder. Er schlief tief und fest, ruhte sich von der langen Reise aus. Also setzte ich mich zu ihm und begann, Dir meinen ersten Brief zu schreiben. Seite um Seite habe ich von den vielen Zauberern berichtet. Anschließend kam der Brief in eine Flaschenpost, die ich in das Sternenmeer geworfen hatte.
Stunde um Stunde beobachtete ich die Flasche, wollte zusehen, wie sie sich auf den Weg zu dir machte. Und genau darin lag auch das Problem. Sie schwebte über mir, blieb aber wo sie war. Du kannst dir gar nicht vorstellen, mich das machte. Ich schlug die Hände vor mein Gesicht und weinte bitterlich. Große Krokodilstränen rannen meine Wangen herab.
Ich weinte so sehr, dass ich nicht einmal bemerkte, dass sich jemand neben mich gesetzt hatte.
„Hallo, kleines Mädchen. Warum weinst du so bitterlich?“, hörte ich die Frage eines Mannes.
Ich schrak hoch und sah ihn ängstlich an.
„Oh, nein. Hab bitte keine Angst vor mir. Ich bin ein Zauberer aus der Stadt und könnte keiner Fliege etwas zu Leide tun. Aber vielleicht kann ich dir helfen. Erzähl mir, warum du so traurig bist.“
Ich schluchzte noch einmal ganz laut, dann wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und erzählte, was mit meiner Flaschenpost passiert war. Der Zauberer sah nach oben und entdeckte sie über unseren Köpfen, denn sie schwebte noch immer dort und bewegte sich fort.
Er lächelte mich verständnisvoll an und zog seinen langen Mantel aus, den er mir vorsichtig gab.
„Sie dir meinen Zaubermantel an. Er ist etwas ganz Besonderes. Es gibt nur einen einzigen davon. Ich kann damit Dinge tun, zu denen kein anderer Zauberer fähig ist.“
Ich sah mir den Mantel genauer an und entdeckte in seinem schwarzen Stoff unendlich viele kleine, leuchtende Punkte.
„Dieser Mantel ist mit dem Sternenmeer fest verbunden. Jeder Lichtpunkt in seinem Stoff ist ein Stern. Und wenn ich den Mantel trage, kann ich zu jedem Stern und jeder Welt reisen, die dort oben existiert.“
Ich sah zu ihm auf.
„Kannst du dann auch meine Flaschenpost zu meiner Oma Sonne bringen?“
„Das nicht, denn ich bin immer sehr beschäftigt. Aber ich kann dir einen besseren Vorschlag machen.“
Er griff in die Tasche, die an seiner Schulter hing und holte eine Schere hervor. Damit schnitt er ein Stück Stoff aus seinem Mantel und gab es mir.
„Wenn du deiner Oma Sonne eine Flaschenpost geschrieben hast, wirf sie in den Stoff hinein. Die Flasche wird augenblicklich darin verschwinden und macht sich geschwind auf den Weg. Sie wird deine Oma Sonne auf dem schnellsten Weg erreichen.“
Ich strahlte ihn an und wusste gar nicht was ich sagen sollte, so dankbar war ich ihm.
„Vielen Dank. Das ist das größte Geschenk, dass ich jemals bekommen habe.“
„Nichts zu danken, kleines Mädchen. Du bist hier auf der Welt der Zauberer. Es ist unsere Aufgabe, anderen mit unseren Gaben zu helfen. Nur leider kommen wir so selten dazu, weil hier einfach jeder ein Zauberer ist. Du hast mir also auch einen Gefallen getan.“
Dann stand er auf, hüllte sich in seinen Mantel und verschwand von einem Augenblick zum nächsten.
Ich begann also mit meinem zweiten Brief an Dich, der Dein erster werden würde. Sobald ich mit ihm fertig bin, stecke ich ihn in eine Flaschenpost und werde sie auf das kleine Stück Sternenmeer werfen. Ich hoffe, dass er dann auch bei dir ankommt. Und danach geht es wieder auf die Reise zu einer neuen Welt. Ich bin schon sehr gespannt, wohin mich mein kleiner Mond tragen wird.
Liebe Grüße,
dein kleines Mädchen mit dem kleinen Mond.
Oma Sonne lächelte, als sie den Brief zu Ende gelesen hatte. Sie freute sich sehr darüber, dass ihr kleines Mädchen im unendlichen Sternenmeer zurecht fand. Dann legte sie sich schlafen, damit die Zeit bis zum nächsten Brief nicht zu lang werden würde.
(c) 2017, Marco Wittler
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