Ein Laden voller Geschichten
Paul und Lina waren mit Mama und Papa in der Stadt unterwegs. Mama brauchte ein paar neue Schuhe für den Sport, Lina wollte Bummeln. Paul interessierte sich für ein paar neue Comics und Papa wollte sich einfach nur die Füße vertreten und Zeit mit seiner kleinen Familie verbringen.
Nun gingen die vier die breite Straße der Fußgängerzone entlang, sahen in die Schaufenster und schwärmten bereits vom leckersten Eis der Stadt, dass sie sich unbedingt gönnen wollten.
Irgendwann blieb Mama stehen und sah in eine kleine Seitengasse hinein, in der sich keine Menschenseele verirrt hatte.
»Habt ihr etwas dagegen, wenn wir mal dort entlang gehen? Ich würde gerne nach etwas schauen.«
Ohne eine Antwort der anderen abzuwarten, bog sie in die schmale Gasse, sah sich die nicht so schmuckvollen Eingangstüren an und blieb schließlich vor dem einzigen Schaufenster stehen, dass es hier gab.
Im Gegensatz zu den üblichen Geschäften der Stadt, hing hier nur ein kleines, verwittertes Messingschild über dem Eingang: ‚GESCHICHTEN‘ stand darauf geschrieben.
»Woher wusstest du, dass es hier einen Laden gibt?«, fragte Lina? Man sieht den gar nicht von da drüben.«
Mama grinste und legte vorsichtig ihre Hand auf die abgegriffene Türklinke, als könne diese von jetzt auf gleich verschwinden.
»Mein Opa ist mit mir sehr oft hier gewesen, als ich noch ein Kind war. Eine Ewigkeit hab ich den Laden nicht mehr besucht, hatte schon völlig vergessen, dass es ihn überhaupt gegeben hat. Vorhin ist er mir dann aber nach einer Weigkeit wieder in den Kopf gekommen. Ich wollte einfach nur wissen, ob es ihn noch gibt.«
Ein leises Wow entfuhr Linas Mund. Sie hatte nicht gedacht, dass es überhaupt einen Laden geben konnte, der schon so alt war. Paul hingegen verdrehte die Augen.
Was soll denn an dem Laden so toll sein? Geschichten kann ich auch mit meinem Handy lesen, wenn ich das unbedingt will. Aber Filme finde ich viel cooler. Da ist mehr Action drin.«
»Gehen wir mal rein?«, fragte Mama und öffnete die kleine Glastür.
Eine Treppe mit drei Stufen führte in das Innere des Ladens. An einer Wand stand ein großes Regal mit vielen verschiedenen Büchern. Der restliche Raum war bis an die Decke mit Apothekerschränken gefüllt. Es mussten hunderte, wenn nicht sogar tausende kleine Schubladen sein, in denen sich Dinge versteckt hielten, die auf ihre Entdeckung warteten.
In einer Ecke des Ladens lagen Kissen um einen alten Ohrensessel herum.
»Was ist das denn für ein blöder Laden?«, begann Paul zu meckern. »Hier kann man ja gar nichts kaufen. Jedenfalls kann ich nichts sehen, was verkauft wird.«
Genau in diesem Moment tippte ihm jemand von hinten mit einem Finger auf die Schulter.
»Nicht so voreilig, junger Mann. Man sollte niemals einen Laden nur nach seinem Aussehen beurteilen.«
Paul fuhr erschreckt herum. Hinter ihm stand ein alter, hagerer Mann mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht.
»Wo kommen sie denn so plötzlich her? Gerade waren sie aber noch nicht hier.«
»Ich war schon immer hier. Ich bin Teil dieses kleinen Ladens. Ohne ihn würde es mich nicht geben. Ohne mich würde es auch den Laden nicht geben.«
Paul wollte zu einer Antwort ansetzen, aber plötzlich fehlten ihm die Worte.
Der Alte sah den Jungen neugierig an.
»Die fehlen die Worte, habe ich Recht? Dann sieh dich einfach eine Weile um. Ich bin mir sicher, dass du bei deiner Suche, die richtigen Worte finden wirst.«
Der Ladenbesitzer wandte sich ab und setzte sich in den Sessel.
Mama winkte ihre Kinder zu sich.
»Jetzt erinnere ich mich wieder an alles. Wir weiß noch ganz genau, wie das hier funktioniert.«
Sie öffnete eine der Schubladen, griff hinein und holte einen kleinen Umschlag daraus hervor. In dem Umschlag steckte ein Zettel, auf dem ein einzelnes Wort stand: ‚KANINCHEN‘.
»Und was sollen wir damit anfangen?«, wurde Paul langsam mürrisch. »Das ist doch alles voll langweilig hier.«
»Jedes dieser Worte ist Teil unserer Geschichte, die wir heute erleben werden.«, erklärte Mama weiter. »Jeder von uns wird aus irgendeiner Schublade ein Wort ziehen. Der alte Mann findet dann die passende Geschichte dazu.«
Paul seufzte. Dann griff er in die bereits offene Lade. »Da! Leer! Sorry, aber für mich ist wohl kein Wort drin.«
»Du hast kein Gespür für Geschichten und Wunder, kleiner Freund.«, war aus der Ladenecke zu hören. Schließe die Schublade, öffne sie und greife erneut hinein.«
Paul lachte. Es wurde ein sehr unsicheres Lachen. Wollte dieser alte Mann ihn etwa vorführen oder mit einem Trick auf den Arm nehmen?
Er tat es trotzdem. Paul schob die Lade zurück in den Schrank, zog sie wieder heraus und traute seinen Augen nicht. Da war ein neuer Umschlag. Wie aus dem Nichts, war er in der Schublade erschienen.
»Nimm ihn ruhig, kleiner Freund. Er wird dich nicht beißen.«
Paul nahm den Umschlag, öffnete ihn: ‚GESCHENK‘.
Nun waren auch Lina und Papa an der Reihe. Sie zogen neue Schubladen auf. ‚MASKE‘ und ‚GÄNSEBLÜMCHEN‘ kamen nun zu den ersten zwei Wörtern hinzu.
»Ihr habt eure Geschichte gewählt.«, sagte der Alte feierlich. Nun setzt euch zu mir, trinkt eine Tasse warmen Tee und hört, was ich euch zu erzählen habe.
Er erzählte von einem fernen, fernen Land, in dem vor langer Zeit Menschen, Tiere, Pflanzen, selbst Steine und alles andere in friedlicher Eintracht lebten. Selbst den Gänseblümchen auf der Blumenwiese ging es in diesem ungewöhnlichen Land besser als sonst wo auf der Welt.
Doch eines Tages sollten sich dunkle Schatten über eben dieses Land legen.
Ein Fremder war gekommen. Das hatte man ihm sofort angesehen, denn auf seinem Gesicht saß eine seltsam lächelnde Maske. Was sich dahinter verbarg, hatte niemand ergründen können.
In seinem Planwagen hatte der Fremde noch viel mehr Masken mitgebracht, die er den Bewohnern des Landes zum Geschenk machen wollte.
Egal, wie schlecht gelaunt man war, wie schlecht es einem gerade erging, man würde jedem Anderen mit einem freundlichen Lächeln begegnen können. Diese Masken würden das Zusammenleben viel einfacher, schöner und netter machen. Schlecht gelaunte Bewohner würde es nicht mehr geben.
Diese Versprechen klangen zu schön, um wahr zu sein. Nie wieder schlechte Laune, nie wieder erklären müssen, warum man sich gerade nicht über irgendwas freuen wollte oder konnte. Diese Masken waren einfach ein Traum.
Jeder Bewohner des Landes ließ sich eine Maske schenken. Jeder Mensch, jedes Tier, jede Pflanze und jeder Stein, selbst jedes Gänseblümchen hatte nun eine Maske vor dem Gesicht.
Gerade die Steine waren daüber besonders glücklich. Da ihnen von Natur aus Mund, Augen und Nase fehlten, kamen die Masken gerade recht.
In das Land, in dem alle in Ruhe und Frieden miteinander lebten, wurde es noch schöner zu leben, denn nun begegnete man sich stets mit einem freundlichen Lächeln. Jeder war glücklich, jeder war froh. Aber irgendwie beschlich die Bewohner recht schnell ein ungutes Gefühl. Plötzlich wussten sie nicht mehr, was die anderen wirklich fühlten. Echte Gefühle waren plötzlich nicht mehr vorhanden.
Auf der anderen Seite waren da aber auch die Maskenträger selbst. Hatten sie einmal schlechte Laune, ging es ihnen nicht gut oder brauchten sie Trost, war nun niemand mehr da, der dieses erkennen und helfen konnte.
So wurden die Bewohner dieses besonderen Landes immer trauriger, auch wenn es niemand sehen konnte.
Irgendwann wurde es jemandem zu bunt. Ein kleines Kaninchen hatte es satt, dass es keine Gefühle mehr gab. Wütend riss es sich die Maske vom Gesicht und schleuderte sie auf dem Marktplatz zu Boden.
Die anderen Bewohner, die das sahen waren entsetzt. Niemand nahm in der Öffentlichkeit seine Maske ab. Das schickte sich nicht. Doch dann sahen sie das freudige Grinsen des kleinen Nagers, das aus tiefstem Herzen zu kommen schien.
Plötzlich hielt die Anderen nichts mehr auf. Auch sie nahmen ihre Masken ab, die einen langsam und zögerlich, die anderen voller Überzeugung und Freude.
Von nun an wurden diese schrecklichen Dinger nie wieder getragen, keine falschen Gefühle mehr gezeigt. Der Frohsinn zog wieder ins Land ein, gefolgt von Freundschaft und Verständnis.
Der alte Ladenbesitzer stellte seine nun leere Teetasse zur Seite, faltete seine Hände auf seinem Bauch und schloss mit einem verschmitzten Lächeln die Augen.
»Ich hoffe, dass euch meine Geschichte gefallen hat. Auch wenn hier noch niemand meinen Laden unzufrieden verlassen hat, ist es mir wichtig, das von euch zu erfahren.«
Paul, der die größten Zweifel an diesem seltsamen Laden gehabt hatte, stand von seinem Sitzkissen auf, drehte sich im Kreis und sah sich noch einmal die vielen kleinen Schubladen an. Dann blickte er zum alten Geschichtenerzähler.
»Du meine Güte, das war unglaublich. Die Geschichte war super. Ich hätte nicht gedacht, dass sich jemand so schnell eine Geschichte einfallen lassen kann. Wenn es einen neuen Film gibt, muss ich immer erst Monate lang warten, bis er im Kino läuft.«
Der Alte lächelte zufrieden.
»Ich habe mir die Geschichte nicht ausgedacht. Sie schlummerte bereits seit langer Zeit in den Schubladen, die ihr geöffnet habt. Ich habe sie nur noch in die richtigen Worte und Sätze gekleidet, damit auch ihr daran teilhaben konntet.«
Er stand aus seinem Sessel auf, bedankte sich noch einmal für das geduldige Zuhören und begleitete die Familie zur Eingangstür.
»Ich hoffe, dass wir uns bald wieder einmal zu einer Geschichte hier treffen werden. Bis dahin wünsche ich euch noch eine gute Zeit.«
Mama, Papa, Lina und Paul verließen glücklich und zufrieden den Laden. Als sie sich noch einmal umsahen, war der alte Mann verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Die Tür war fest verschlossen und die Schränke im Innern dick eingestaubt.
»Unglaublich!«, war Lina erschrocken. »Was ist denn jetzt passiert?«
Mama nahm ihre Kinder an der Hand und ging mit ihnen zurück zur Fußgängerzone. »Das war eine wirklich fantastische Geschichte, würde ich mal behaupten.«
(c) 2020, Marco Wittler
Bild: OpenClipart-Vectors auf Pixabay
Die Inspiration zu dieser Geschichte fand ich in einer wundervollen Geschichte über Geschichtenerzähler von Anja Müller. Ihr könnt sie HIER lesen. Es geht um das Haus der Geschichten.
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