890. Geister

Geister

Mitternacht.
Die Geisterstunde hatte geschlagen.
Ich hielt nie wirklich etwas von Mythen und Geschichten. Geister, Monster und andere Schreckgestalten gab es für mich nur in Erzählungen und den Ängsten anderer Menschen. Und doch war mir nicht ganz wohl, als ich so spät noch im Wald unterwegs war, kaum die Hand vor Augen sehen konnte und die vielen Geräusche um mich herum immer lauter zu werden schienen.
Ich war weit davon entfernt, in Panik zu geraten. Trotzdem wollte ich, nur um auf Nummer Sicher zu gehen, auf der Hut sein.
Ich kam immer wieder vom Wegesrand ab, stolperte über knorrige Wurzeln und lief in den einen oder anderen Busch hinein.
Hätte ich doch bloß einen Ersatzkanister mit Benzin bei mir gehabt. Selbst ein Anruf bei der Pannenhilfe war mir nicht vergönnt. In dieser von Gott verlassenen Einöde war das Handynetz praktisch nicht vorhanden.
So irrte ich nun schon seit gefühlten zwei Stunden durch die Wildnis, wusste nicht wohin es ging. In Ermangelung des Internets konnte ich keine Straßen- oder Wanderkarte aufrufen. Aber das war eh schon egal, denn mein Akku war bereits leer. Die Taschenlampe hatte ihm den Rest gegeben.
Irgendwann sah ich in der Ferne Licht. Ich konnte nicht sagen, ob es ein Fahrzeug, ein später Wanderer mit Lampe oder ein einsames Hexenhäuschen im Wald war, trotzdem fühlte ich mich gleich viel besser und hatte endlich ein Ziel, auf das ich zu laufen konnte.
Ich wurde etwas schneller, meine Schritte fester. Ich erreichte schon nach wenigen Minuten den Ursprung des Lichts und schauderte. Am Ast eines Baumes hingen drei Bettlaken, mit je zwei ausgeschnittenen Augen.
Geister?
Ich glaubte noch immer nicht an Fabelwesen. Trotzdem ließ mich der Gedanke nicht mehr los. Eiskalt lief es mir den Rücken runter. Auf Armen und Beinen entstand eine Gänsehaut, die an Heftigkeit nicht zu überbieten war. Ich schluckte schwer.
Dann streckte ich meine Hand nach den Laken aus. Ich wollte sie berühren, mir selbst klar machen, dass es sich hier nur um einfache Stofffetzen handelte, die irgendwer zum Spaß hier aufgehängt hatte.
Zentimeter für Zentimeter näherte sich meine Hand. Ich wollte gerade den Stoff greifen, da glitten meine Finger einfach hindurch.
Verdammt! Geister!
Ich schrie, nahm meine Beine in die Hand und lief so schnell ich nur konnte.
»Hey!«, hörte ich nur eine Stimme hinter mir. »Lässt du wohl die Finger von unseren Klamotten.«
Ich sah mich ein letztes Mal um und entdeckte dabei drei verwaschene Schemen, die zwischen den Bäumen hervor schwebten und sich die Laken überzogen.
Geister!

(c) 2020, Marco Wittler


Image by Schmidsi from Pixabay

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