891. Das Kostüm

Das Kostüm

Paul sah auf den Kalender und verdrehte die Augen. Halloween. Schon wieder. Jedes Jahr das gleiche Fest, an dem sich alle anderen Kinder verkleideten und Süßigkeiten sammelten. Das war so unnötig. Das brauchte niemand.
Nur zu gern hätte er sich an diesem Tag in seinem Zimmer verkrochen und ich verstreichen lassen. Aber er musste in die Schule.
Schon auf dem Weg zum Bus liefen ihm die ersten kostümierten Kinder entgegen. Vampire, Monster, Zombies und alles, was in Horrorgeschichten gehörte, bekam er zu sehen. Sogar ein paar Mumien warteten an der Haltestelle.
»Hoffentlich regnet es gleich und euch weicht das Klopapier auf.«, lästerte er so leise, dass ihn niemand hören konnte.
Eine halbe Stunde betrat Paul nur widerwillig die Schule. Jedes Kind und fast jeder Lehrer war verkleidet.
»Boah! Echt jetzt? Habt ihr nichts Besseres zu tun?«
Er verkroch sich in seinem Spind, der im Flur vor seinem Klassenraum befand und wartete darauf, dass es draußen ruhiger wurde. Vielleicht konnte er im Schrank die Zeit totschlagen, bis er wieder nach Hause fahren durfte. Doch dann hörte er ein Wispern hinter sich. Erschrocken drehte er den Kopf, konnte aber in der Dunkelheit des Spinds nicht viel erkennen.
Paul öffnete die Tür, sprang heraus, stolperte und landete auf dem Boden. Im Schrank bewegte sich etwas, löste sich von der Rückwand und schwebte auf ihn zu.
»Was zum …«
Es war das Kostüm eines Werwolfs, zotteliges Fell von oben bis unten.
»Los, zieh mich an!«, flüsterte es und kam langsam auf Paul zu.
»Ich werde dir auch bestimmt nichts tun. Lass uns Freunde sein und durch die Straßen ziehen.«
Paul bekam Angst, rappelte sich auf und rannte aus der Schule. Draußen auf dem Gehweg wandt er sich nach rechts und lief los. Doch an der nächsten Ecke fiel ihm auf, dass er die falsche Richtung eingeschlagen hatte.
Er drehte um, und hoffte, schnellstens nach Hause zu kommen. Aber vor dem Eingang der Schule hätte ihn das Kostüm beinahe erwischt.
»Lauf nicht weg! Lass uns einen Halloweenspaß erleben. Zieh mich an!«
Die Stimme des Kostüms wurde drängender, wurde immer wieder von einem Mark erschütterndem Lachen begleitet, dass auch direkt aus der Hölle hätte stammen können.
Paul kreischte, während er immer schneller lief. Seine Angst wurde zu Panik. Er sah immer wieder hinter sich. Das Kostüm kam stetig näher. Würde er es rechtzeitig bis nach Hause schaffen? Warum half ihm bloß niemand?
An der nächsten Kreuzung stand eine rote Ampel. Stehen bleiben oder weiter laufen? Paul wurde die Entscheidung abgenommen. Der starke Verkehr hätte ihn auf keinen Fall auf die andere Seite durchgelassen.
Sekundenbruchteile später klatschte ihm etwas auf den Rücken, warf ihn um und hüllte ihn ein. Das Kostüm hatte ihn erwischt.
»Hilfe! Nein! Lass mich!«
Paul wehrte sich mit Händen und Füßen, versuchte, das graue Fell abzustreifen. Es gelang ihm nicht. Er verschwand Stück für Stück im Kostüm, wurde zu einem Werwolf.
»Los jetzt!«, sagte es zu Paul. Und jetzt machen wir die Nachbarschaft unsicher und sammeln ganz viele Süßigkeiten.«, wechselte die Angst einflößende Stimme zu einem viel fröhlicherem Tonfall.
Paul spürte, wie die Panik ihn verließ. Er hatte plötzlich Lust, Halloween zu feiern. Er holte sein Handy aus der Schultasche, schickte Nachrichten an seine Freunde und traf sich am Abend mit ihnen. Der Geist des Halloween hatte nun auch ihn ergriffen. Paul konnte sich gar nicht mehr vorstellen, warum er sich die Jahre vorher immer dagegen gewehrt hatte.
Nach seiner späten Rückkehr nach Hause hängte er das Kostüm in den Schrank und freute sich schon auf das nächste Jahr.

(c) 2020, Marco Wittler


Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

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