560. Nik und Nele fliegen zum Weihnachtsstern (Nik und Nele 10)

Nik und Nele fliegen zum Weihnachtsstern

Weihnachten stand vor der Tür. Nein, nicht so, wie du grad vielleicht denken magst. Es stand natürlich nicht vor der Tür, klopfte, klingelte und wartete darauf, dass es jemand herein ließ. Es war nur langsam an der Zeit, den Christbaum ins Wohnzimmer zu holen, ihn mit bunten Kugeln, Strohsternen und Lametta zu schmücken. Nur noch einmal schlafen bis zum Heiligen Abend.
Überall auf der Welt waren viele Millionen Kinder aufgeregt. Die einen wollten jetzt schon wissen, welche Geschenke sie bekommen würden, andere konnten die ganze Nacht nicht schlafen und einige von ihnen dachten darüber nach, ob der Weihnachtsmann nicht zu viele Dummheiten von ihnen in sein dickes, goldenes Buch eingetragen hatte.
Zwei dieser vielen Kinder waren die Zwillinge Nik und Nele. Sie standen an diesem Abend am Fenster und sahen in die sternenklare Nacht hinaus. Sie suchten nicht etwa nach dem von Rentieren gezogenen Schlitten des Weihnachtsmanns. sie taten das, was sie jeden Abend taten. Sie beobachteten die Sterne und fragten sich, wie das Leben auf anderen Planeten sein würde. Gab es dort in den fernsten Fernen Menschen wie sie oder Außerirdische, die ganz anders aussahen, als es sich überhaupt irgendwer auf der Erde vorstellen konnte?
Ganz viele spannende Fragen spukten in den Köpfen der beiden Kinder herum. Aber Antworten konnte ihnen niemand darauf geben – jedenfalls konnte das kein einziger Mensch von der Erde.
In diesem Moment zog für mehrere Augenblicke eine große, helle Sternschnuppe über den Himmel und beleuchtete das Firmament, bis sie schließlich erlosch und wieder verschwand.
»Oh, war das schön.«, schwärmte Nele und seufzte einmal laut. »Ob der Weihnachtsstern auch so hell über dem Stall in Bethlehem geleuchtet hat?«
Nik wiegte den Kopf nach links und nach rechts.
»Der war bestimmt viel größer und heller und prächtiger. Aber so genau wird das wohl niemand mehr wissen. Es ist ja schon über zweitausend Jahre her. Wir müssten schon selbst nachschauen.«
In seinen Augen war plötzlich ein abenteuerliches Glitzern zu sehen.
»Denkst du etwa an einen nächtlichen Ausflug?«, fragte Nele neugierig. Auch in ihren Augen war dieses Glitzern zu sehen.
»Wäre möglich.«, antwortete Nik mit einem Grinsen im Gesicht. »Die Entscheidung liegt, wie immer, ganz bei dir.«
Nele ließ sich nicht lange bitten. Sie nahm ihren Bruder an der Hnad und zog ihn hinter sich her zum unteren Teil des gemeinsamen Etagenbettes. Dann hob sie ihr Kopfkissen zur Seite unter dem ein großer, roter Knopf zum Vorschein kam.
Nele hielt ihre Hand darüber und wartete mehrere Sekunden lang.
»Nun mach es nicht so spannend.«, flüsterte Nik drängelnd in die Stille hinein. »Opa hat uns das Bett nicht nur zum Schlafen gebaut.«
Ja, der Opa der Zwillinge war schon ein besonderer Mann gewesen. Er war Erfinder, Tüftler und Bastler ein einem. Über viele Monate hatte er an diesem Etagenbett gebaut, bis es etwas Einzigartiges dabei entstanden war. Er hatte es wirklich nicht nur zum Schlafen gebaut. Es hatte nkch ein paar zusätzliche Spielereien bekommen, die die beiden Kinder regelmäßig nutzten, wovon ihre Eltern aber nichts wussten. Und in dieser Nacht vor dem Heiligen Abend würden die Zwillinge wieder davon Gebrauch machen.
Nele drückte endlich auf den roten Knopf. Unter der Matratzebegann es zu Surren und zu Brummen. Man konnte leises Klickenmund Klacken hören, vermischt mit leisem Zischen und Pfeifen.
Dann schoben sie rundherum vier große, durchsichtige Scheiben von unten nach oben und schlossen das Bett luftdicht ab. Gleichzeitig öffneten sich die beiden Türen zum Balkon. Das Bett erhob sich ein paar Zentimeter vom Boden, schwebte nach draußen und flog dem Himmel entgegen.
»Wo geht es hin?«, fragte Nele.
Nik holte ein dickes Buch unter der Bettdecke hervor – seinen Sternenatlas – und blätterte durch die Seiten, bis er das Gesuchte fand und den Zeigefinger drauf legte.
»Zum Weihnachtsstern. Wir schauen nach, wie hell er leuchtet.«
Nele juchzte erfreut. Dann drückte sie ein weiteres Mal auf den roten Knopf. Das Bett beschleunigte, wurde schnell und raste den unendlichen Weiten des Weltraums entgegen.

Der Flug war, wie in fast jeder Nacht, sehr ereignisreich. Die Zwillinge winkten dem Mann im Mond zu. Sie verwirrten die Astronauten in der Raumstation, die nicht glauben wollten, dass Etagenbetten fliegen konnten. Außerdem machten sie mit mehreren Raumschiffen ein lustiges Wettrennen vom Mars bis zum Saturn, bevor sie am eigentlichen Ziel ankamen – dem Weihnachtsstern.
Jedenfalls dachten die Geschwister, dass sie den Weihnachtsstern erreicht hätten. Irgendwas stimmte aber nicht.
»Sind wir hier wirklich richtig?«, fragte Nik unsicher. »Es ist so dunkel. Man sieht nicht mal seine Hand vor Augen. Hier kann sich unmöglich der helle Weihnachtsstern befinden. Wir müssen am Pluto falsch abgebogen sein.«
Selbst Nele, die sich immer um den Flugkurs kümmerte, hatte das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben.
»Es ist aber auch gar nichts zu sehen. So extrem leer ist der Weltraum nur selten. Hol doch mal deine Taschenlampe raus und mach Licht.«
Nik schlug die Bettdecke zur Seite, tastete sich im Dunkeln über die Matratze, bis er sie gefunden hatte. Dann schaltete er die Taschenlampe an und leuchtete einmal im Kreis.
»Moment mal. Da war was.«
Nele hatte etwas im Licht gesehen. Ihr Bruder schwenkte zurück. Einen Moment später entdeckten sie vor sich einen dunklen Felsklumpen, der sich in einer finsteren Ecke des Weltalls versteckte.
»Ist das etwa …?«, grübelte Nik.
»Nein.«, war sich Nele sicher. »Das kann doch gar nicht sein. »Oder vielleicht doch?«
»Es ist tatsächlich der Weihnachtsstern.«, flüsterten sie sich gleichzeitig zu.
Der dunkle Klumpen musste die Kinder gehört, denn er drehte sich nun langsam um und sah die beiden aus trüben Augen traurig an.
»Ja, der bin ich. Ich bin der Weihnachtsstern, der vor über zweitausend Jahren den drei heiligen Königen den Weg zum Stall von Bethlehem gezeigt hat.«
Er seufzte laut. Eine dicke Träne kullerte vom seinem Auge nach unten.
»Aber das ist alles so lange her. Die Könige sind schon tot. An diese Geschichte bestimmt keiner mehr. Man hat mich vergessen. Wer weiß  denn heute noch, was Weihnachten überhaupt ist? Lasst mich einfach hier in der Einsamkeit des Weltalls allein. Ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt, nicht mehr gebraucht zu werden.«
Die Geschwister schüttelten den Kopf.
« Das können wir unmöglich zulassen. Du wirst noch gebraucht.«, sagte Nele bestimmt.
»Gebraucht? Bist du dir da wirklich sicher? Wofür? Ich tauge nicht als Schreibtischlampe. Dafür bin ich zu groß. Nein, nein. Ich bin hier in der Dunkelheit viel besser aufgehoben. Hier störe ich niemanden und falle auch nicht zur Last.«
»So schlimm ist es eigentlich gar nicht.«, versuchte Nik zu trösten. »Auf der Erde kennt man den Weihnachtsstern – kennt man dich. Man erinnert sich an dich. Viele Menschen mögen vielleicht vergessen haben was Weihnachten wirklich ist und was dundazunbeigetragen hast. Aber man kennt dich. Komm doch einfach mit uns mit. Du könntest in den Köpfen der Menschen etwas verändern?«
»Meint ihr wirklich? Ich weiß nicht. Eigentlich bin ich auch nur ein einfacher Stern unter vielen anderen. Ich würde mit den anderen am Himmel stehen, leuchten und niemand würde mich beachten. Ich sollte hier bleiben.«
Nele verdrehte die Augen. Dieser Weihnachtsstern war noch viel schwieriger zu überzeugen als ein störrischee Esel.
»Wenn du nicht mit uns kommst, wirst du nie erfahren, ob man dich wirklich vergessen hat oder das es so ist, wie wir dir erzählt haben.«
Der Stern seufzte. »Ich kann es ja mal versuchen. Wenn mich dann wirklich niemand mehr kennt, kehre ich einfach in meine dunkle Ecke zurück.«
Und so geschah es dann auch. Der Weihnachtsstern hielt sich am Etagenbett fest. Nele drückte auf den großen, roten Knopf und setzte es damit in Bewegung. Zu dritt machten sie sich auf den Rückflug zur Erde.

Etwas später hatten sie ihren Heimatplaneten erreicht. Da schon viel Zeit vergangen war, würde schon bald die Sonne aufgehen. Der Morgen wartete bereits auf seinen Auftritt und die ersten Menschen gingen bereits die Straßen entlang.
»Seht ihr.«, sagte der Stern traurig. »Niemand beachtet mich. Man hat mich also doch vergessen. Ich hab es von Anfang an gewusst.«
Nik schüttelte den Kopf und tippte dem Stern auf die Schulter.
»Dass dich niemand beachtet liegt bestimmt daran, dass du vergessen hast zu leuchten.«
Nun fiel es dem Stern auch auf. Er knipste sein Licht an, schickte es schwach und zaghaft zur Erde hinab, auf der es kaum zu erkennen war. Er gab sich viel Mühe, es stärker leuchten zu lassen, aber das war gar nicht so einfach.
In diesem Moment sahen ein paar Menschen zum Himmel hinauf. Sie entdeckten zwischen all den Sternen am Firmament einen, den sie noch nie zuvor gesehen hatten.
»Ist das etwa …?«, fragten sie sich.
»Kann das wirklich sein? Ist der Weihnachtsstern zu uns zurück gekehrt?«
Immer mehr Menschen kamen zusammen, sahen in den Himmel, redeten miteinander und waren sich sehr schnell einig, dass es sich bei dem schwachen Licht tatsächlich nur um den Weihnachtsstern handeln konnte. Sie waren sich aber auch einig, dass er traurig und glanzlos aussah.
»Da muss man doch was tun. Wir müssen ihm helfen.«
Die Menschen liefen zur nächsten Kirche und klopften an die Eingangstüren, bis ihnen geöffnet wurde. Sie ließen sich Gesangsbücher geben, mit denen sie wieder hinaus auf die Straße traten. Dort stimmten sie gemeinsam ein Lied an.
»Hört ihr das?«, war plötzlich der Weihnachtsstern hoch erfreut. »Sie singen ein Lied über mich. Das bedeutet, dass sie mich wirklich nicht vergessen haben. Man kennt mich noch.«
Sofort strahlte sein Sternenlicht heller. Es wurde sogar so hell, dass es das Licht der anderen Sterne überstrahlte. Es wurde so hell wie damals, als es den drei heiligen Königen den Weg zu Bethlehems Stall wies.
»Vielen Dank ihr Beiden. Ohne euch wäre mir dieses große Glück zur Weihnachtszeit niemals geschehen.«
Und von da an kam der Stern jedes Jahr in der Weihnachtszeit zur Erde, um die Menschen mit seinem Licht zu erfreuen.

(c) 2016, Marco Wittler

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