113. Der kleine Storch lernt fliegen

Der kleine Storch lernt fliegen

Theodor saß ganz hoch oben auf einem Turm im Nest. Er warf einen unsicheren Blick zum Boden herab und fürchtete sich.
»Das sind bestimmt fünf Meter bis da unten. Ich werde das Nest niemals verlassen. Ich bleibe für immer hier oben.«
Er war richtig sauer auf seine Eltern. Wie konnten sie es nur zulassen, dass er als Storch aus dem Ei geschlüpft kam. Andere Vögel hatten ihre Nester in Bäumen. Da konnte man zur Not über die Äste und den Stamm nach unten klettern. Aber Störche nisteten auf Masten. Da gab es nicht einmal eine Treppe oder einen Fahrstuhl. Es war zum aus der Haut fahren.
Jeder andere Vogel war im Blätterwald eines Baumes sicher vor Regen, Wind und stechender Sonne. Im Storchennest war man dem Wetter rund um die Uhr ausgesetzt.
»Ach wäre ich doch als kleiner Spatz zur Welt gekommen. Dann könnte ich mich einfach fallen lassen und der Wind würde mich sanft zu Boden tragen. Aber als großer Storch mit dickem Hintern bin ich viel zu schwer. Ich würde wie ein Stein herunter fallen und mir alle Knochen brechen.«
Theodor hatte Angst vor dem Fliegen. Jeden Tag sah seinen Eltern dabei zu und bekam das ganz große Grausen. Das konnte doch nicht natürlich sein, dass so große Lebewesen sich in der Luft halten konnten.
Mit jedem weiteren Tag wurde es sogar noch schlimmer, denn nach und nach lernten seine drei Geschwister ebenfalls die große Kunst des Flatterns. Quietschvergnügt drehten sie eine Runde nach der anderen um das Nest herum und zogen ihren ängstlichen Bruder auf.
»Na los. Schwing deinen Hintern hoch und flieg mit.«, rief der Älteste.
»Wenn du nicht so einen großen Schnabel hättest, könnte man glatt denken, in unserem Nest säße ein großer Angsthase.«, rief der Zweite.
Sogar die kleine Schwester, die als Letzte geboren wurde, machte mit.»Du bist doch gar kein Storch, denn alle Störche können fliegen. Es gibt nur einen großen Vogel, der nicht fliegen kann. Das ist ein Strauß. Der steckt immer vor Angst den Kopf in den Sand. Aber selbst das schaffst du nicht, denn der nächste Sandkasten steht ja am Boden. Da traust du dich ja nicht hin.«
Dann lachten sie alle und flatterten davon, um in den nahen Wiesen, bei den Bächen, nach leckeren Fröschen zu suchen. Nur die beiden Eltern hatten ein wenig Mitleid mit ihrem Sohn und brachten ihm weiterhin etwas zu Fressen in das Nest.
»Irgendwann wird auch er reif genug sein, um sich majestätisch in die Lüfte zu erheben.«, wusste seine Mutter.
»Und dann wird er den anderen davon fliegen und sie weit hinter sich lassen. Das Lachen wird ihnen noch vergehen.«
Theodor hatte es immer wieder versucht. Wenn niemand hin sah, breitete er seine großen Flügel aus und schlug mit ihnen so fest und schnell es ging. Er hob allerdings nicht ab. Zu einem Sprung in die Tiefe, wie es seine Geschwister beim ersten Mal getan hatten, traute er sich nicht.
»Ich bleibe halt hier oben und werde ein Sitzstorch.«
Doch selbst dann lachten ihn seine Geschwister aus.
»Was willst du denn dann im Winter machen, wenn wir alle in den warmen Süden nach Afrika fliegen und du allein zurück bleibst? Wer soll dir denn dann etwas zu fressen bringen?«
Vor dem Winter hatte Theodor Angst, wollte es sich aber nicht anmerken lassen.
»Mir wird schon etwas einfallen. Ihr werdet es sehen.«
Die Wochen und Monate zogen ins Land. Die Tage wurden kürzer, das Wetter schlechter und der Sommer neigte sich seinem Ende zu. Der Herbst stand mittlerweile vor der Tür. Die Blätter färbten sich bunt und eine Vogelart nach der anderen verabschiedete sich und flog in wärmere Gebiete.
Theodor saß noch immer im Nest und fürchtete sich bereits vor dem Winter. Er hatte Angst, dass jeden Moment die erste Schneeflocke vom Himmel fallen würde.
Inszwischen waren auch seine Eltern und Geschwister in den Süden aufgebrochen. Nun war er allein und wusste nicht, was er machen sollte.
»He, was machst du denn noch hier? Solltest du nicht schon längst unterwegs sein? Ruft dich nicht der Süden?«
Eine kleine piepsige Stimme meldete sich aus dem dichten Gestrüpp des Nestes. Theodor wusste nicht, wem sie gehörte oder wo ihr Besitzer saß. Er konnte nichts sehen. Er sprang auf und blickte unter sich.
»Wer ist denn da und stört mich? Ich habe zu tun.«
Eine kleine Maus kam zum Vorschein. Sie stellte sich als Sebastian vor und war auf der Suche nach Dingen, die die Störche zurück gelassen hatten und man für den kommenden Winter noch gebrauchen konnte.
»Also los, du großer Vogel. Schwing dich in die Lüfte und flieg deinen Artgenossen nach, sonst frierst du hier noch fest, wenn die Temperaturen fallen.«
Theodor verzog das Gesicht und sah plötzlich sehr traurig aus.
»Das ist ja das Problem. Ich traue mich nicht zu fliegen. Ich habe Angst, wie ein Stein zu Boden zu fallen. Nur deswegen bin ich noch hier. Alle anderen sind schon unterwegs nach Afrika.«
Die Maus grinste. Sie konnte es gar nicht glauben, solch einen Angsthasen vor sich sitzen zu haben.
»Na das wäre doch gelacht, wenn ich dich nicht zum Fliegen bringen könnte.«, sagte Sebastian.
Der Storch schnäubte nur ungläubig.
»Du bist doch nur eine kleine Maus. Wie willst du einem so großen Tier, wie mir, beibringen, wie man fliegt?«
Die Maus stemmte die Arme entrüstet in ihre Seiten und setzte ein grimmiges Gesicht auf.
»He, hör mal Kumpel. Ich weiß ja nicht, wer dir das in den Kopf gesetzt hat, dass du mit mir so umgehen darfst. Ich mag vielleicht etwas klein sein. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass ich dumm bin. Immerhin bist du ein großer Vogel und hockst trotzdem noch in deinem Nest.«
Sebastian hatte Recht. Theodor entschuldigte sich und bat ihn um Hilfe.
»Ich will mal nicht so sein.«, sagte die Maus.
»Dann pass mal gut auf. Hier ist mein Plan.«
Sebastian schien genau zu wissen, was er tat. Er wollte sich auf den Rücken des Storchs setzen und ihn festhalten, während sie durch die Lüfte schwebten.
»Du willst mich festhalten? Du bist doch eine Maus. So kräftig kannst du unmöglich sein.«
Sebastian winkte nur ab und sprach ganz gelassen weiter.
»Vertrau mir einfach, Kumpel. Ich bin halt keine gewöhnliche Maus. Ich habe sogar schon einem Strauß im Zoo das Fliegen beigebracht, obwohl es eigentlich keiner dieser Riesenvögel kann.«
Theodor war sich immer noch nicht so ganz sicher, aber es war seine einzige Chance. Er lies die Maus auf seinen Rücken steigen. Dann stellte er sich an den Rand des Nestes, schloss die Augen und sprang plötzlich das erste Mal in seinem Leben in die Tiefe.
Es ging steil bergab. Der Wind blies ihm in die Augen. Doch kurz vor dem Boden machte der Storch eine Kurve nach oben und segelte um ein paar Bäume herum. Er schlug mit den Flügeln und stieg immer höher in die Luft.
»Ich kann fliegen. Schau dir das an. Es klappt tatsächlich. Es ist einfacher als ich dachte.«
Doch als er auf seinen Rücken sah, war die Maus verschwunden. Nun ja, nicht ganz, denn sie saß noch immer im Nest. Ganz leise war Sebastians Stimme zu hören.
»Und du hast es ganz allein geschafft, nur weil du gedacht hast, dass ich dich halte.«
Theodor war unglaublich stolz auf sich und dankte der Maus, als er wieder gelandet war. Nach einem herzlichen Abschied entfaltete er wieder seine Flügel und flog seiner Familie nach.
Sebastian sah ihm noch lange nach, bis er nur noch ein kleiner Punkt vor dem grauen Regenhimmel war.
»Machs gut, mein gefiederter Freund.«

(c) 2008, Marco Wittler

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