133. Liebe über den Wolken

Liebe über den Wolken

Prinzessin Cirrovelum lebte gemeinsam mit ihren Eltern in einem wunderschönen Schloss. Die Mauern waren schneeweiß und kuschelig weich, wie alles in dieser Gegend, denn die Königsfamilie lebte in einem Wolkenschloss.
Tag für Tag stand die Prinzessin auf ihrem Balkon und begrüßte am frühen Morgen die aufgehende Sonne, sobald die ersten Lichtstrahlen zu sehen waren. Kurz nach dem Frühstück erschien dann ein Lehrer und brachte ihr die wichtigsten Dinge bei, damit sie später einmal die Regierungsgeschäfte ihres Vater übernehmen könnte. Ab dem Nachmittag wurde es Cirrovelum dann sehr langweilig.
»Es gibt hier überhaupt nichts zu tun. Wenn das Schloss geputzt werden muss, beginnt es zu regnen und schon sind alle Wolken sauber. Ich kann nicht einmal mit einem Ball spielen, da er sehr schnell auf die Erde herunter fallen kann. Es ist einfach viel zu langweilig hier.«
Die Prinzessin wünschte sich jemanden herbei, denn Freunde hatte sich ihr ganzes Leben lang nicht gehabt. Das Königreich der Wolken war über die ganze Erde verteilt. Auf jeder einzelnen Wolke lebten nur eine Handvoll Menschen. Man traf sich daher nur sehr selten. Also stand Cirrovelum bis zur Schlafenszeit auf ihrem Balkon und beobachtete die Menschen auf der Erde unter sich.
Nur zu gerne wäre sie auf die Oberfläche herab gestiegen, um Freunde zu finden und sich mit ihnen die Zeit zu vertreiben, Späße zu machen und um einmal nicht einsam zu sein. Doch leider führten keine Treppen oder Leitern nach unten.

Auf der Erde lebte Julian. Er war ein junger und neugieriger Bursche, der vor nichts Angst zu haben schien. Tag für Tag streunte er durch die Gegend und besah sich neue Dinge, die er noch nicht kannte. Er hatte dunkle Wälder und tiefe Höhlen erforscht. Doch eines seiner Ziele hatte er bisher nicht erreicht.
»Eines Tages will ich über die Wolken spazieren gehen und mir die Welt von oben beschauen. Dann kann ich allen Menschen davon berichten.«
Er malte sich in seinen Gedanken aus, wie er barfuß über die Wolken lief und seine Zehen feucht wurden. Das musste ein noch viel schöneres Gefühl sein, als über taufrische Wiesen zu gehen.
»Aber wie komme ich bloß da oben hin? Es gibt ja keinen Weg, keine Treppe oder Leiter.«
Jeden Abend saß er auf einer alten Bank vor seinem Haus und überlegte, wie er zum Himmel hinauf kommen konnte.

Eines schönen Tages flog ein großer Adler zwischen der Erde und den Wolken hindurch. Er hatte Hunger und suchte nun nach einem Beutetier, welches er verschlingen konnte. Da seine Augen aber nicht mehr die Besten waren, suchte er sich einen Menschen als Opfer aus.
Schnell wie ein Pfeil stürzte er sich zu Boden und griff mit seinen Klauen zu. Er bekam den Menschen an seinen Schultern zu packen und zog ihn hoch hinaus in die Lüfte.
Der Adler sah sich um, konnte sein Nest aber nicht entdecken. Dazu fehlte ihm eindeutig etwas.
»Ach, wenn ich doch nur als Mensch geboren wäre, dann hätte ich mir schon längst eine Brille zugelegt. So werde ich nie zu meinem Nest zurück finden.«
Julian war überrascht und erschrocken, als er plötzlich auf seinem Weg in die Stadt angegriffen und hoch hinaus gerissen wurde. Scharfe Krallen hatten sich in seine Kleidung gebohrt und kratzten nun schmerzhaft über die Haut seiner Schultern. Als er nach oben sah, entdeckte er den großen Adler und hörte, was dieser für ein Problem hatte.
»Du brauchst tatsächlich eine Brille. Dann verwechselst du uns Menschen auch nicht mehr mit kleinen Hasen. Wenn du mich nicht auffrisst, werde ich dir helfen.«
Der Adler war natürlich sehr erstaunt. So ein Fehler war ihm noch nie passiert. Schnell landete er auf einer Wolke und setzte den Menschen neben sich ab.
»Es tut mir wirklich sehr leid. Da meine Augen aber schon so alt sind, erkenne ich nicht mehr alles.«
Er entschuldigte noch weitere zwanzig Mal und beteuerte immer wieder, nicht einen einzigen Menschen in seinem ganzen Leben gefressen zu haben. Julian war sehr froh, das zu hören und hatte schon eine Idee, wie er dem Vogel helfen konnte.
»Ich war erst gestern bei meinem Vater.«, erzählte er.
»Ich habe ihm eine neue Brille gekauft und wollte seine alte zurück zum Optiker bringen. Aber ich denke, dass du sie viel besser gebrauchen kannst.«
Er griff in seine Tasche, zog das Gestell heraus und setzte es dem Adler auf den Schnabel.
»Du meine Güte. Ich kann wieder alles sehen. Sogar mein Nest in den Bergen erkenne ich nun wieder. Das ist wirklich unglaublich. Ich weiß gar nicht, wie ich mich bei dir bedanken soll.«
Julian lächelte. Er freute sich, jemandem geholfen zu haben.
»Vielleicht bringst du mich einfach wieder zur Erde zurück, denn ich weiß nicht, wie ich von hier wieder herunter kommen soll.«
Doch in diesem Moment wurde ihm erst klar, wo er sich nun befand. Er saß auf einer watteweichen Wolke und schwebte mit ihr über die Erde. Vorsichtig stand er auf und wollte ein paar Schritte gehen, als ihn der Adler zurückhielt.
»Bleib wo du bist. Über Wolken können nur die Wolkenmenschen gehen. Alle anderen können nur in der Mitte sitzen. Du würdest bei deinem ersten Schritt nach unten stürzen.«
Julian war enttäuscht. Nun war er schon so weit gekommen und konnte es nicht einmal genießen.
»Die Wolkenmenschen haben es wirklich gut. Ich beneide sie.«
Er dachte etwas nach. Wolkenmenschen? Davon hatte er noch nie etwas gehört.
»Wer sind denn diese Leute, die hier oben leben?«
Der Adler breitete einen Flügel aus und zeigte mit seinen Federn auf ein großes flauschiges Schloss.
»Dort wohnt der Wolkenkönig mit seiner Familie. Er herrscht über alle großen und kleinen Wolken.«
Julian besah sich das weiße Gebäude und sah eine junge Frau von einem Balkon nach unten schauen.
»Wer ist diese Schönheit? Ist sie eine Wolkenfrau?«
»Das ist die Prinzessin. Sie steht jeden Tag dort und langweilt sich, weil sie niemanden hat, der ihr die Zeit vertreibt.«
Julians Herz machte einen kleinen Hüpfer.
»Ich möchte zu ihr gehen. Vielleicht bin ich ja derjenige auf den sie schon so lange wartet.«
Der Adler schüttelte den Kopf und seufzte. Schließlich hatte er dem Menschen doch schon erklärt, dass sie beide nur in der Mitte der Wolke stehen oder sitzen konnten.

Cirrovelum stand auf ihrem Balkon und langweilte sich. Nicht einmal die alte Krähe, die im Gemach der Prinzessin jeden Tag auf einer Vogelstange saß, vermochte dies zu ändern. Dafür fühlte sie sich auch schon viel zu alt.
»Was ist denn das? Kann ich meinen Augen trauen oder spielen sie mir einen Streich?«
Die Krähe kam hervor geflogen und blickte eine Weile in die Ferne.
»Ihr seht recht Prinzessin. In der Mitte der Wolke sind ein Adler und ein Mensch gelandet. Das kommt wirklich sehr selten vor.«
Cirrovelum sah ganz angestrengt zu den beiden unerwarteten Besuchern und spürte ein wohliges Gefühl in ihrem Herzen.
»Vielleicht möchte der hübsche Bursche eine Zeit lang mein Gast sein. Wir könnten uns gemeinsam die Zeit vertreiben.«
Die Krähe schüttelte den Kopf.
»Aber eure Majestät. Ihr wisst doch, dass Erdenmenschen und andere Kreaturen nur in der Mitte unserer Wolken sitzen können. An anderen Stellen würden sie sofort zur Erde stürzen. Nur eures und mein Volk ist in der Lage hier oben zu leben.«
Cirrovelums Stimmung wurde wieder schlechter. Sie hatte sich schon darauf gefreut nicht mehr allein zu sein. Die Krähe bemerkte dies und kam ins Grübeln.

Julian war wieder zurück auf der Erde. Er saß auf seiner Bank und starrte traurig auf die Wolken.
»Ach, wie schön es doch gewesen wäre, wenn ich die Prinzessin getroffen hätte.«
Sein Herz war mittlerweile in Liebe entbrannt. Julian konnte nur noch an Cirrovelum denken.
Während er vor sich hin träumte, landete ein alter Vogel vor seinen Füßen. Es war die Krähe der Prinzessin.
»He, junger Bursche. Willst du wirklich zu den Wolken hinauf, um die hübsche Königstochter zu besuchen?«
Julian war überrascht. Noch nie hatte eine Krähe zu ihm gesprochen.
»Ja, das würde ich sehr gerne. Aber ich weiß nicht, wie ich das anstellen soll.«
Der Vogel lachte leise.
»Ich wüsste da eine Möglichkeit. Nimm dir meine Flügel. Du kannst sie dir an deinen Rücken heften. Mit ihnen wirst du im Wolkenschloss leben können, ohne zum Boden zu stürzen.«
Julian wusste gar nicht was er sagen sollte. Mit einem solch edlen Angebot hätte er nie gerechnet.
»Das kann ich nicht annehmen. Du brauchst deine Flügel doch selber.«
Der Vogel winkte ab.
»Ich bin schon sehr alt. Meine Zeit ist gekommen. Da werde ich meine Flügel also nicht mehr brauchen. Die letzten paar Tage, die mir in meinem Leben noch bleiben, werde ich glücklich auf der Erde verbringen, denn ich weiß, dass ich zwei Menschen mit meinem Geschenk glücklich machen werde.«

Und so geschah es. Julian heftete sich die Flügel an den Rücken und flog hoch hinaus in die Lüfte. Im Wolkenschloss traf er dann zum ersten Mal auf die Prinzessin, die sofort ihren Traumprinzen in ihre Arme schloss.

(c) 2008, Marco Wittler

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