151. Kopflos

Kopflos

»… und so verjagten die Geister ein letztes Mal die störenden Menschen aus ihrem Schloss und lebten von nun an in Ruhe und Frieden.«
Lina und Sebastian saßen ganz gebannt auf ihren Betten und hatten der Geschichte gelauscht, die ihnen ihre Mutter erzählt hatte. Es war der Halloweenabend. Noch vor zwei Stunden hatten die beiden Kinder an die Türen der Nachbarschaft geklopft, Leute erschreckt und dafür Süßigkeiten bekommen.
»Meinst du denn, dass es Geister wirklich gibt?«, fragte Lina.
Mama musste lachen.
»Wer weiß.«, antwortete sie.
»Ich habe zwar noch nie welche gesehen, aber das bedeutet ja nicht, dass es keine gibt. Vielleicht verstecken sie sich ja vor uns Menschen.«
»Außer an Halloween.«, warf Sebastian plötzlich ein.
»Heute laufen so viele Menschen verkleidet herum, dass ein richtiges Gespenst oder ein Monster gar nicht auffällt. Es kann einfach über die Straße gehen ohne bemerkt zu werden.«
Mama ging zum Fenster und sah heraus.
»Was meint ihr wohl, wer von den Leuten dort unten echt oder verkleidet ist?«
Die Kinder kamen hinzu und sahen ebenfalls nach draußen. Sie dachten sich zu jeder Verkleidung die verwegensten Ideen und Geschichten aus, bis es schließlich Zeit wurde, die Augen zu schließen und auf den Sandmann zu warten.
»Aber Mama, wir müssen heute wach bleiben.«, beschwerte sich Sebastian.
»Der Sandmann wurde heute zu einer Halloweenfeier eingeladen. Er hat gar keine Zeit uns Sand in die Augen zu streuen.«
»Das glaubt ihr doch selber nicht.«, lachte Mama.
»Ihr werdet jetzt schön schlafen.«
Sie schaltete das Licht ab und verschwand aus dem Kinderzimmer.
»Ob es wirklich Geister und Monster da unten auf der Straße gibt?«, fragte Lina ängstlich.
»Ganz bestimmt. Auf jeden Fall.«, bestätigte Sebastian.
»Außerdem sind da noch Vampire, Mumien, Zombies, Kopflose und vieles mehr. Sie sind jetzt auf der Suche nach Menschen, die sie aussaugen, anknabbern oder überfallen können. Aber hier drin sind wir sicher. Die kommen nicht bis zu uns. Es sind doch alle Türen verschlossen.«
Sebastian hätte zu gerne gelacht. Seine kleine Schwester hatte vor allem Möglichen Angst.
»Na gut. Dann kann ich auch ruhig schlafen.«
Lina drehte sich um und war schon nach wenigen Minuten eingeschlafen. Damit hatte Sebastian gar nicht gerechnet. Eigentlich wollte er ihr Angst machen. Aber nun war er selber kurz davor, Panik zu bekommen.
Von draußen waren immer wieder unheimliche Geräusche zu hören. Jemand kreischte, ein anderer schrie, als würde er gleich sterben. Es knackte in den Dachbalken und der Wind pfiff um das ganze Haus herum.
»Oh nein. Hoffentlich gibt es doch keine Monster. Ich will von denen nicht gefressen werden.«
Sebastian zog sich die Decke über den Kopf und zitterte am ganzen Körper, bis er eingeschlafen war.

Am nächsten Morgen wurden die Kinder mit den ersten Sonnenstrahlen wach. Sie standen auf, gähnten ganz laut und sahen vorsichtig aus dem Fenster. Die Geister, Monster und alle anderen gefährlichen Kreaturen waren verschwunden. Nun sah man nur noch ganz normale Menschen und den üblichen Straßenverkehr. Sebastian atmete tief durch und war froh, die Nacht überlebt zu haben.
»Dann hatte ich ja doch Recht. Es gibt keine Wesen, die mich fressen wollten. Habe ich ein Glück gehabt.«
Er öffnete die Tür des Kinderzimmers. Gerade als er den ersten Fuß in den Flur setzen wollte, öffnete sich die Tür des Bades und ein Mann wankte daraus hervor. Alles an ihm war so normal, wie bei jedem Menschen. Er hatte einen Körper, zwei Arme, Beine, Füße und Hände. Doch über dem Kragen seines Hemdes war nichts zu sehen. Der Kopf fehlte.
»Hilfe, hilfe!«, rief er und prallte an einer Wand ab.
»Hilfe, Mama, hilfe!«, brüllte Sebastian um einiges lauter.
»Da ist ein kopfloser Mann im Badezimmer. Hilfe!«
Er rannte die Treppe hinunter und verkroch sich unter dem Küchentisch.
Mama konnte das alles nicht so recht glauben und ging vorsichtig die Treppe hoch. Dort sah sie, wie Papa sich gerade sein Hemd zurecht zog.
»Was ist denn hier passiert?«
»Papa hat sich das Hemd angezogen, ohne den obersten Knopf zu öffnen.«, berichtete Lina.
»Ich habe das ja sofort gesehen. Aber Sebastian ist ein viel zu großer Angsthase. Der fürchtet sich ja vor allem Möglichen.«

(c) 2008, Marco Wittler

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