152. Der Fährmann

Der Fährmann

Wir waren schon einige Tage im Herzen Englands unterwegs. Mit dem Planwagen ging es landauf und landab. Wir besichtigten alte Burgen, Schlösser und hin und wieder das eine oder andere Städtchen. Es war unglaublich, wie viel Geschichte in diesem Land steckte.
Über eine Sache machten wir uns allerdings sehr gerne lustig. In jedem alten Gemäuer wollte man uns weiß machen, dass es dort spuken würde. Die Engländer sind schon ein komisches und abergläubisches Völkchen.
»Wir müssen uns beeilen. Das Wetter schlägt um.«, rief plötzlich einer unserer drei Kutscher.
Ich rutschte nach vorn und sah zum Himmel hinauf. Tatsächlich zogen dunkelgraue Wolken auf. Es würde schon sehr bald zu regnen beginnen.
Alles bloß das nicht, dachte ich mir. Den letzten Regen hatten wir gerade erst hinter uns gelassen. Vor zwei Tagen hatte er uns erwischt und alles durchnässt. Zum Glück fanden wir eine Pension, die über einen Trockner verfügte, sonst wäre der Rest des Urlaubs ziemlich unangenehm geworden.
»Wie weit ist es denn noch bis Blackwood Castle?«, fragte ich.
Der Kutscher zuckte nur mit den Schultern und kaute weiter auf seinem alten Grashalm, den er schon seit einer Woche nicht mehr durch einen neuen ausgetauscht hatte.
»Wie lange werden wir noch unterwegs sein?«, fragte ich erneut.
Er fühlte sich genervt, als er mir schließlich in seinem gebrochenen Deutsch antwortete.
»Noch zwei Stunden, wenn alles gut geht. Müssen noch den Fluss überqueren.«
Das konnte doch nicht so viel Zeit in Anspruch nehmen, dachte ich mir. Immerhin gibt es heutzutage überall Brücken, die man bequem befahren kann.
Kurz Zeit später kamen wir an einem kleinen Wäldchen vorbei, an dessen Rand eine alte Frau Reisig sammelte.
Als sie uns sah, drehte sie sich zur Straße um und rief uns etwas entgegen. Zuerst verstand ich sie nicht wegen ihres starken Dialekts, doch mit etwas Konzentration gelang es mir dann doch.
»Bezahlt den Fährmann nicht.«, rief sie.
»Bezahlt den Fährmann nicht.«
Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Die Alte musste verwirrt sein. Wir wurden von mehreren Kutschern begleitet, aber einen Fährmann konnte ich weit und breit nicht sehen.
Irgendwann endete die Straße an einem Ufer. Weit und breit war keine einzige Brücke zu sehen. Das Ufer auf der anderen Seite des Flusses war rund fünfzig Meter entfernt. So erfuhr ich jedenfalls vom Kutscher. Sehen konnte man es nicht, da es im dunstigen Nebel verborgen war.
»Kommen wir mit den Wagen unbeschadet durch das Wasser?«, fragte ich.
»Durchqueren nicht möglich. Wasser zu tief.«, war die Antwort des Kutschers.
Na prima, dachte ich. Nun waren wir stundenlang unterwegs, nur im an diesem Punkt umkehren zu müssen. Wirklich prima.
Doch da tauchte plötzlich eine Fähre aus dem Nebel auf.
»Müssen mit Boot auf andere Seite übersetzen.«
Ich hatte es befürchtet. Auf dem Wasser hatte ich mich noch nie wohl gefühlt. Ein paar meiner Freunde ging es da nicht anders. Ich konnte mir jetzt schon vorstellen, wie sich mein Magen nach ein paar Minuten Geschaukel fühlen würde.
»Muss das denn wirklich sein? Gibt es keinen anderen Weg?«
Der Kutscher schüttelte den Kopf.
»Müssen Boot nehmen.«
Die Fähre legte an und unsere drei Kutschen fuhren langsam auf das ächzende Holz des Bodens. Das erste mulmige Gefühl bekam ich, als ich den Zustand des Kahns sah. Ich hatte Angst, dass er es nicht auf die andere Seite schaffen würde. Für das besonders schlechte Gefühl im Magen war allerdings der Fährmann zuständig. Als ich ihn sah, glaubte ich sofort, dass es in diesem Land spuken würde. Er sah aus, als wäre er schon vor vielen Jahren gestorben und seine Bekleidung hing ihm in alten dreckigen Fetzen am buckligen Körper.
»Kommt nur, liebe Leute.«, flüsterte er mit abstoßend verlockender Stimme.
»Kommt auf meine Fähre. Ich werde euch sicher an das andere Ufer geleiten. Doch zuvor bezahlt mich für die Überfahrt.«
In diesem Moment wurde mir wieder bewusst, was ich zuvor gehört hatte. Die alte Frau hatte uns doch gewarnt. Ich hielt den Kutscher zurück.
»Bezahlt wird auf der anderen Seite. Vorher nicht.«, rief ich mit zittriger Stimme.
»So soll es sein, feiner Herr, so soll es sein.«
Der Fährmann löste grimmig die Halteseile und steuerte seine Fähre in den Fluss hinein. Mit seinen Händen zog er an einem weiteren Seil, dass über den Fluss gespannt war. So kamen wir dem anderen Ufer Meter um Meter näher.
Nach ein paar Minuten waren wir im Nebel eingetaucht. Land war nicht mehr zu sehen, nur noch das gemächlich dahin plätschernde Wasser.
»Die Hälfte der Fahrt ist gemacht, feiner Herr.«, hörte ich den Fährmann sagen.
»Gebt mir nun mein Geld und ich werde euch sicher auf die andere Seite geleiten.«
Es lief mir eiskalt den Rücken herab. Sollte ich ihn tatsächlich bezahlen? Doch was würde dann geschehen? Ich malte mir die wildesten Horrorgeschichten aus. Vor meinem inneren Auge sah ich, wie der Fährmann über uns herfiel, einen nach dem anderen tötete und unsere leblosen Körper anschließend im Fluss versenkte.
»Wir werden dich bezahlen, sobald wir sicher auf der anderen Seite angekommen sind. So war es abgemacht.«
Der Nebel schien immer dichter zu werden. Ich konnte kaum noch die anderen zwei Kutschen erkennen. Kalter Angstschweiß klebte mir das Hemd an den Rücken.
»Hallo?«
Keine Antwort.
»Hallo? Hört mich jemand?«
Wieder nichts.
Was sollte ich nur machen.
Plötzlich legte sich von hinten eine Hand auf meine Schulter. Ein übler Mundgeruch stieg mir in die Nase. Der Fährmann saß hinter mir in der Kutsche.
»Gib mir mein Geld und dir wird kein Unheil mehr geschehen. Und ehe du bis drei zählen kannst, wirst du auf der anderen Seite stehen.«
Ich schrie vor Schreck und sprang von der Kutsche. Doch wo sollte ich mich verstecken können? Überall war nur Wasser.
»Ihr bekommt euer Geld auf der anderen Seite.«, rief ich verzweifelt in den Nebel hinein.
Doch der Fährmann, wo auch immer er jetzt stecken mochte, lachte, als wäre er verrückt geworden. Es schien, als wäre er zu allem fähig.
In diesem Moment rumpelte die Fähre. Ich drehte mich um und sah das Ufer. Wir hatten es geschafft. Die Kutschen rollten an Land, gefolgt vom Fährmann. Nun stand er vor mir und hielt mir seine schmutzige Hand entgegen.
»Gib mir mein Geld.«, fauchte er.
Ich schluckte schwer, als ich ein paar Münzen aus der Hosentasche zog. Vorsichtig legte ich sie ihm in die Hand.
»Vielen Dank, Sir. Und beehren sie uns bald wieder.
Merkwürdigerweise sprach er plötzlich ganz normal. Er zog eine Fernbedienung aus der Tasche und betätigte ein paar Knöpfe. Innerhalb kürzester Zeit verschwand der Nebel und mir wurde klar, dass ich auf einen Trick herein gefallen war. Auf der Fähre, die bei besserer Witterung doch nicht so schaurig und alt aussah, stand etwas geschrieben:

Schaurig schöne Überfahrten mit Ghost Ferries
Gruselspaß bis zur Bezahlung

Deswegen hatte uns die alte Frau gewarnt. Sie wollte, dass wir bis zur anderen Seite Angst haben. Verrücktes England, verrückte Engländer.
Ich kletterte wieder in meinen Planwagen. Als ich einen letzten Blick auf den Fluss warf, war die Fähre verschwunden. Es war kein Nebel mehr da und doch fehlte von diesem Boot jede Spur. Der Fährmann konnte sich unmöglich in Luft aufgelöst haben.
Während die Kutscher den Pferden das Kommando zur Weiterfahrt gaben, hörte ich von Fern ein leises verrücktes Lachen.

(c) 2008, Marco Wittler

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*