194. Der kleine Junge, der nicht schlafen wollte

Der kleine Junge, der nicht schlafen wollte

Adam saß am Fenster und blickte in die tiefe Nacht hinaus. Es war so dunkel, dass man nichts mehr sehen konnte. Doch das konnte ihn nicht von seiner Beschäftigung abbringen.
»Suchst du etwas?«, fragte seine Mutter.
Doch Adam schüttelte den Kopf. Mit der Hand zeigte er auf den Wandkalender.
»Es ist schon der fünfzehnte Dezember. Aber es ist noch nicht eine einzige Schneeflocke vom Himmel gefallen. Ich will, dass es endlich richtig Winter wird.«
Sein Schlitten stand schon seit einem ganzen Monat an der Haustür bereit. Es war draußen sogar schon richtig kalt geworden, aber der Schnee ließ auf sich warten.
»Du kannst doch Morgen wieder schauen, ob sich das Wetter geändert hat.«, schlug seine Mutter vor.
»Es ist schon spät und du solltest längst im Bett liegen und schlafen.«
Aber Adam tat so, als hörte er sie nicht.
»Ich werde nicht eher vom Fenster verschwinden, bevor es nicht angefangen hat zu schneien.«
Nach und nach gingen seine Eltern und Geschwister schlafen. Sie hatten die nächsten Tage so viel für Weihnachten vorzubereiten, dass sie ausgeschlafen sein wollten.
Adam war das alles egal. Er wollte der Erste sein, der die ersten Schneeflocken sah.
Die Zeiger auf der Uhr tickten und drehten sich weiter im Kreis. Die Nacht zog vorbei und ein neuer Morgen kündigte sich an. Die Sonne stieg auf und erhellte den ganzen Himmel.
»Verdammt. Es sind wieder keine Wolken zu sehen.«
Adam war enttäuscht. So einen späten Winter hatte er noch nie erlebt.
Inzwischen waren die anderen aufgestanden. Ausgeschlafen und vergnügt versammelten sie sich um den großen Tisch und aßen das Frühstück.
»Willst du nicht zu uns kommen?«, fragte sein großer Bruder.
»Nein.«, war die knappe Antwort.
»Ich habe keine Zeit. Wenn ich jetzt zu euch komme, verpasse ich die Schneewolken. Aber ihr könnt mir ein Brot herüber bringen.«
Also aß Adam am Fenster.

Mit jedem Tag, der verging, wurde Adam müder. Er gähnte immer öfter und hatte große Mühe, seine Augen offen zu behalten.
»Willst du nicht vielleicht doch irgendwann schlafen gehen?«
Seine Mutter machte sich Sorgen um ihren Sohn. Doch dieser lehnte ab. Er durfte auf keinen Fall den Winteranfang verpassen.

Am Vorabend des Weihnachtsfestes geschah es dann.
Nein, der Winter kam nicht plötzlich über das Land geschneit. Es war Adam, der nun so müde war, dass ihm seine Augen endgültig zu fielen und er laut zu schnarchen begann. Er war tatsächlich eingeschlafen.
Seine Mutter seufzte erleichtert und brachte ihn ins Bett. Während sie mit der schweren Last die Treppe hinauf stieg, sah sie kurz aus einem Fenster hinaus. Sie glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Da fielen Schneeflocken vom Himmel. Dick und schwer bedeckten sie innerhalb weniger Minuten das Land. Der Winter war nun doch endlich gekommen.
»Adam, du musst aufwachen. Der Winter ist da.«, rief die Mutter.
Adam hörte sie nicht. Sein Schlaf war tief und fest.

Adam wurde wach. Laut gähnte er durch sein Zimmer. Dann sah er sich um und stellte sofort fest, dass er eingeschlafen sein musste.
»Oh nein. Hoffentlich, hat der Winter nicht ohne mich begonnen.«
Er stand auf und lief ans Fenster. Schnee war keiner zu sehen. Nur die vielen bunten Blumen auf der Wiese.
»Da habe ich ja Glück gehabt.«
Er ging die Treppe hinunter und blieb plötzlich verwirrt stehen.
Bunte Blumen? Zur Winterzeit?
Er raste in die Küche.
»Was ist passiert?«
Seine Mutter musste lachen. Dann erklärte sie ihm, dass er viel zu lange nicht geschlafen hatte. Irgendwann war seine Müdigkeit so groß geworden, dass er den ganzen Winter hindurch geschlafen hatte.
»Der März ist schon fast vorbei. Du hast sogar den Frühlingsanfang verschlafen.«
In diesem Moment kamen seine Geschwister herein und schwärmten von dem vielen Schnee, den sie den ganzen Winter über genossen hatten.
»Über einen Meter hoch lag er. Von Weihnachten an konnten wir bis letzte Woche jeden Tag mit dem Schlitten fahren. Das war der schönste Winter, den wir je erlebt haben.«
Adam konnte es nicht fassen. Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.
»Wie dumm bin ich doch bloß gewesen. Das passiert mir bestimmt kein zweites Mal.«
Und so blieb ihm nichts anderes übrig, als bis zum nächsten Winter zu warten. Bis dahin ging er jeden Abend pünktlich in sein Bett und schlief.

(C) 2009, Marco Wittler

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