010. Das Märchen von Wolf, Bär und Elch

Das Märchen von Wolf, Bär und Elch

Es war eine warme Sommernacht und doch hing die Sonne am Himmel. Sie stand nicht sehr hoch, aber ihre rotgoldene Scheibe gab genug Licht, um ohne eine Lampe eine Geschichte wie diese lesen zu können.
Hier im Lande Midgard war das aber um diese Jahreszeit normal, denn in der Nähe des Nordpols scheint die Sonne ein halbes Jahr lang ohne unterzugehen.
Genau in diesem Moment kam Lasse langsam aus der Höhle heraus. Er hatte sich dort den ganzen Tag verkrochen und geschlafen. Nun war er ausgeruht und hungrig. Er hätte glatt einen ganzen Elch verspeisen können. Und das hatte er auch vor, denn Lasse war ein Wolf.
Ein leises Brummen drang aus der Öffnung hinter im an sein Ohr. Einen kurzen Augenblick später trottete Ole ins Freie. Ole war ein Bär und Lasses bester Freund. Dies war eine sehr seltsame Freundschaft, denn normalerweise vertragen sich Wolf und Bär nicht. Aber warum verstanden diese beiden sich so gut?
Lasse war ein sehr schneller und guter Jäger. Schon von weitem sah er seine Beute und konnte ihr stundenlang nachstellen. Wenn er dann ein großes Beutetier erlegt hatte, trottete Ole hinterher und half dem Wolf dabei, es in die Höhle zu tragen, wo sie es zusammen auffressen konnten. Außerdem war ein Bär gut um andere hungrige Wölfe abzuschrecken. So konnte der eine von den Fähigkeiten des anderen seinen Nutzen ziehen und umgekehrt.

 Und nun ging es wieder auf die Jagd. Lasse sah sich eine Zeit lang um und erspähte einen Elch. Im dunklen Dickicht war dessen braunes Fell fast nicht zu sehen, aber sein gewaltiges Geweih überragte jeden Busch. Der Wolf setzte sich in Bewegung und lief leise auf seine Beute zu, während sich Ole gemütlich auf einem Stein niederließ und alles von oben herab ansah.
Doch sollte alles anders kommen, wie die beiden es geplant hatten.
Es dauerte eine ganze Weile bis Lasse in die Nähe des Elches kam und dessen Witterung aufnahm. Er schlich sich langsam an ,und als er sicher war, dass seine Beute hinter einer Reihe von Büschen war machte er einen großen Sprung über die Hecke vor sich.
Aber er landete nicht auf einem verdutzten Elch, sondern musste selber erstaunt feststellen, dass unter ihm nur Luft war. Er stürzte direkt in einen tiefen Abgrund. Voller Panik ruderte er mit seinen Beinen. So hatte er sich die Jagd nicht vorgestellt.
Aber zu seinem Glück fiel er nicht weit. Schon zwei Meter unter ihm war ein Felsvorsprung auf dem er landete. Er hatte völlig unverletzt überlebt, aber er konnte nicht wieder hochklettern.
Lasse wusste nicht, was er nun machen sollte und wollte schon laut um Hilfe rufen, als sich ein Gesicht über den Rand schob. Es war der Elch, den er ein paar Sekunden vorher noch gejagt hatte.
„Du hast dich wohl etwas versprungen, oder? Halt dich an meinem Geweih fest.“
Der Wolf war verwirrt, weil er nicht verstand, was da vor sich ging, aber schon kam der Kopf des Elches herab und hielt ihm das Geweih hin. Lasse überlegte nicht lang und biss vorsichtig hinein um sich so nach oben ziehen zu lassen. Er wusste, dass nichts passieren konnte. Ein solches Geweih war sehr stark und der Besitzer würde auch keine Schmerzen durch die scharfen Zähne spüren.
Es dauerte nur einen Moment, da stand er wieder oben auf der Klippe.
„Warum hast du mir geholfen? Ich hatte doch vor dich zu fressen.“
Sie schauten sich an.
„Ich wollte dich dort nicht sterben lassen. Auch wenn du mich fressen wolltest. Warum sollte ich es dir auch übel nehmen. Wölfe fressen nun einmal Elche. So ist die Natur. Aber ich wollte trotzdem dein Leben retten.“
Lasse wusste gar nicht, was er sagen sollte. Er bedankte sich bei seinem Retter und beide gingen auf ihren Wegen nach Hause.
Der Wolf hatte nun zwar nichts zu fressen bekommen, aber ihm war sein Leben neu geschenkt worden, dass war etwas viel wichtigeres, vor allem, wenn es von einem Elch geschenkt wurde, der normalerweise nichts für Wölfe übrig hatte und sie fürchtete.
Lasse kam zurück zur Höhle und erzählte Ole was passiert war. Der Bär war enttäuscht, weil er großen Hunger hatte, aber er war auch sehr froh, dass sein Freund noch lebte.

Am nächsten Abend gingen sie zusammen auf die Jagd.
Es sollte nicht lange dauern, als sie ein lautes knallendes Geräusch durch die Luft zischen hörten. Sie wussten erst nicht was es war, aber dann entdeckten sie einen Menschen. Es war ein Jäger und er hatte ein Gewehr im Anschlag. Und dieser Mensch jagte ein Tier.
Man hätte schnell gesehen, dass Lasse ganz blass wurde, wenn seine Haut nicht von Fell bedeckt wäre. Vor dem Jäger flüchtete in panischer Angst ein großer Elch. Es war das gleiche Tier, dass ihm das Leben gerettet hatte. Nur diesmal war dessen Leben in Gefahr.
Der Wolf dachte nicht lange nach. „Los komm, wir müssen ihm helfen!“
Beide liefen los.
Der Jäger indes legte wieder an. Er hatte den Elch genau im Visier, als er es hinter sich knurren hörte. Er drehte sich langsam um und sah einen Wolf vor sie stehen, der seine Zähne fletschte und sehr gefährlich aussah. Er war sehr erschrocken und zielte nun auf Lasse. Doch dann brummte es aus der anderen Richtung.
Der Jäger traute sich kaum, sich wieder umzudrehen, tat es aber trotzdem. Dort stand nun Ole. Der Bär hatte sich auf seine Hinterbeine gestellt und war durch seine Größe sehr furchteinflössend. Ohne lange zu warten, holte er mit seiner Pranke aus und schlug dem Jäger die Waffe aus der Hand. Dieser bekam eine unglaubliche Angst und lief, so schnell er konnte, aus dem Wald hinaus.
Noch bevor er außer Sichtweite war schlug Ole auf das Gewehr ein und machte es kaputt.
Der Wolf und der Bär waren mit ihrer Tat sehr zufrieden und wollten nun ihre Jagd fortsetzen. Aber weit kamen sie nicht. Denn sie trafen auf den großen Elch.
„Hallo, ihr zwei. Warum habt ihr das getan?“
Lasse überlegte nicht lang. Ihm war die Antwort sofort klar. „Weißt du. Du hast mir mein Leben gerettet. Deswegen fand ich es wichtig, dir das deine nicht nehmen zu lassen. Auch du hast es nicht verdient so früh zu sterben. Und Freunde machen das für ihre Freunde.“
Eric, so hieß der Elch, freute sich sehr über diese schönen Worte. Darum begleitete er sie auf ihrem Weg nach Hause noch ein Weilchen, bis er sich verabschiedete.

 Und so war es im Lande Midgard unter der Mitternachtssonne wieder zu einer seltsamen Freundschaft gekommen, die noch lange Zeit überdauern sollte.
Und wenn man leise durch den dichten Wald spaziert und sich genau umschaut kann man vielleicht mit ganz viel Glück vor einer großen Höhle einen Wolf, einen Bären und einen Elch ganz friedlich zusammen sitzen sehen.

(c) 2004, Marco Wittler

10 Das Märchen von Wolf, Bär und Elch

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