Opas Buch
Leonie war schon ganz früh an diesem Morgen aufgewacht. Sie hatte sich nicht einmal einen Wecker stellen müssen, denn sie war viel zu aufgeregt.
Sie sah auf den großen Kalender an ihrer Wand. Es stimmte. Heute war ihr achter Geburtstag.
»Juhu, heute gibt es ganz viele Geschenke und eine große Geburtagstorte.«
Sie flitzte ins Bad, wusch sich, putzte die Zähne und zog sich an. Als sie in der Küche stand und auf ihre Glückwünsche wartete, wurde sie gleich enttäuscht. Mama sagte nichts, Papa auch nicht. Nicht einmal ihr großer Bruder Nils hatte daran gedacht. Hatten sie wirklich alle den Geburtstag vergessen?
Traurig schluckte sie ihre Tränen herunter, ließ sich nichts anmerken und aß ihr Frühstück.
Schließlich schnallte sie sich ihre Schultasche auf den Rücken und machte sich auf den Weg zur Schule.
Aber als Leonie die Haustür öffnete, war sie richtig überrascht. Draußen stand ein neues rosa Fahrrad mit einer großen Schleife.
»Was ist denn das? Ist das für mich?«
Sie konnte es gar nicht glauben, doch dann standen Mama und Papa neben ihr und gratulierten zum Geburtstag.
»Und ich hatte schon Angst, dass ihr mich vergessen habt. Ich war richtig traurig.«
Nun kam auch Nils und hatte ein Geschenk in der Hand.
»Das hier ist von mir. Darfst du aber erst heute Mittag nach der Schule auspacken.«
Das machte Leonie natürlich neugierig.
»So, mein Schatz.«, sagte Mama.
»Jetzt wird es aber Zeit. Du musst los, sonst kommst du zu spät zur Schule.«
Ein paar Stunden später war die Schule vorbei. Leonie kam nach Hause und freute sich schon auf ihre Geburtstagsfeier. Bald würden ihre Freunde kommen und mit ihr feiern. An der Haustür wurde sie von Nils abgefangen.
»Hallo, großer Bruder.«, sagte sie.
»Hallo, kleine Schwester.«, kam die Antwort zurück.
»Leg deine Sachen weg. Ich hab hier nämlich noch ein paar Geschenke für dich.«
Leonie war aufgeregt.
»Ui, noch mehr Geschenke. Das ist ja super.«
Sie brachte ganz schnell ihre Schultasche in ihr Zimmer, hängte die Jacke an der Garderobe auf und lief wieder zurück in den Flur.
»Wo sind sie denn? Darf ich sie jetzt auspacken?«
Nils nickte und zeigte auf die Wohnzimmertür.
»Liegen alle auf dem Esstisch. Fang nur an.«
Leonie lief los und setzte sich. Das neue Fahrrad stand neben dem Sofa und auf dem Tisch lagen zwei verpackte Geschenke.
»Das Große da ist von mir. Das Kleine hat Papa raus gekramt. Er sagte, es wäre von Opa.«
»Von Opa?«, wunderte sich Leonie.
Sie überlegte. Wie konnte denn ein Geschenk von Opa dabei sein? Er war doch vor drei Jahren gestorben.
Nils schien zu merken, welche Frage ihr durch den Kopf ging.
»Opa wollte, dass du es erst zu deinem achten Geburtstag bekommst. Das hat jedenfalls Papa gesagt.«
Leonie betrachtete es kurz und riss dann die Verpackung auf.
»Es ist ein Buch.«, sagte sie erstaunt.
Sie blätterte durch die Seiten.
»Es ist ein leeres Buch. Es stehen keine Wörter darin. Das ist ja komisch.«
Nils nickte.
»Ich weiß. Ich hab es mir vor ein paar Tagen angesehen, konnte aber nichts daran entdecken. Opa hatte einen komischen Humor.«
Leonie legte das Buch beiseite und öffnete nun das Geschenk ihres Bruders.
»Toll, das habe ich mir schon immer gewünscht.«
Sie hielt einen leuchtenden Kugelschreiber in der Hand. Er glühte von innen heraus in rosa Farbe.
»Aber den darf ich bestimmt nicht mit in die Schule nehmen. Dann bekomme ich Ärger mit meiner Lehrerin.«
Mama kam ins Wohnzimmer und winkte den beiden zu.
»Los, Kinder, kommt in die Küche. Das Essen ist fertig. Beeilt euch, sonst wird es kalt.«
Der Nachmittag verging viel zu schnell. Es waren sieben Mädchen aus Leonies Schulklasse vorbei gekommen. Sie hatten viel Kuchen gegessen, gespielt und Geschenke ausgepackt. Es war sogar ein Zauberer da gewesen, der ein paar ganz erstaunliche Tricks vorführte.
Nun lag Leonie in ihrem Bett. Eigentlich war sie noch gar nicht müde, aber Mama bestand darauf, dass sie zur gleichen Zeit, wie an allen anderen Tagen schlafen ging. Schließlich musste sie ja am nächsten Tag wieder zur Schule gehen.
Sie nahm das Buch von Opa in die Hand und betrachtete es von allen Seiten. Sie öffnete und schloss es ein paar Mal. Aber trotzdem blieben die Seiten so leer, wie ein paar Stunden zuvor.
»Was bist du doch für ein seltsames Ding. Du siehst aus wie ein ganz normales Buch, aber es steht nichts in dir drin. Ein Tagebuch kannst du auch nicht sein, denn man kann dich nicht abschließen. Was soll ich bloß mit dir anstellen?«
Sie strich vorsichtig über die Seiten. Da geschah etwas, womit sie nicht gerechnet hatte. Ihre Fingerspitzen verschwanden im Buch.
Vor Schreck zog Leonie schnell ihre Hand zurück.
»Was war denn das? Das kann doch gar nicht sein.«
Sie hob das Buch hoch, klopfte gegen den Einband. Aber der war so fest, wie man es von anderen Exemplaren her kannte.
Erneut schlug sie ihr Geschenk auf und tippte vorsichtig auf das Papier. Und wieder waren ihre Finger darin eingetaucht.
Langsam schob Leonie ihre Hand tiefer, bis diese komplett verschwunden war. Mit der zweiten Hand hob sie nun das Buch hoch und sah darunter. Aber dort war nichts Außergewöhnliches zu entdecken.
»Das ist ja wirklich seltsam.«
Sie legte das Buch zurück auf das Kopfkissen und besah sich ganz fasziniert, was mit ihrer Hand geschah. Immer wieder bewegte Leonie sie vor und zurück.
Doch dann geschah etwas. Plötzlich war da noch eine andere Hand. Sie war im Buch, griff nach Leonie und zog sie auf die andere Seite.
Leonie fiel weit aber sanft auf ihren Po. Sie glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Ihr Zimmer war verschwunden. Dafür saß sie nun auf der Spitze eines Berges, mitten in einem riesigen Gebirge. Es schien in keiner der vielen Richtungen zu enden.
»Wo bin ich hier? Wie bin ich her gekommen?«
Etwas tippte ihr auf die Schulter. Leonie erschrak und drehte sich um. Da stand etwas. Aber was war es? Es war klein, vielleicht einen Meter groß, trug am ganzen Körper ein weißes Fell, eine große rote Nase im Gesicht und lange Ohren, die bis fast zum Boden reichten.
»Wer bist du?«, fragte Leonie.
Das komische Wesen schnüffelte einmal von oben nach unten und verzog dann seine Nase.
»Also ich bin Alania. Aber was bist denn du? So ein komisches Tier habe ich mein ganzes Leben noch nicht gesehen.«
»Ich bin ein Mädchen.«
»Ich bin auch ein Mädchen.«, sagte Alania.
»Aber ich habe überall Fell und es ist weiß. Deines ist schwarz und nur noch am Kopf. Bist du vielleicht krank und es ist dir ausgefallen?«
»Nein.«, stieß Leonie lachend hervor.
»Ich bin ein Mensch. Wir sehen alle so aus. Mehr Haare haben wir nicht. Und was für ein Ding bist du?«
Alania richtete sich auf, zog ihre rote Latzhose hoch und sagte: »Ich bin ein Schneeohrling, so wie alle hier auf dem Berg.«
»Ein Schneeohrling? Das ist ja ein komischer Name.«
Doch dann fielen Leonie die langen Ohren auf.
»Aber ich kann mir schon denken, warum ihr so heißt.«
Sie sah sich um.
»Wie komme ich eigentlich hier her? Bis vor ein paar Minuten lag ich noch im Bett in meinem Zimmer. Und nun bin ich auf diesem Berg. Wie geht denn das?«
Alania setzte sich und bat Leonie es ihr gleich zu tun.
»Weißt du, ich komme jeden Tag auf diesen Berg. Von hier aus kann man die ganze Welt sehen. Ich beobachte die Vögel. Und wenn es dunkel wird zähle ich die Sterne. Ich weiß nicht warum, aber es macht mir einfach Spaß.
Als ich vorhin in den Himmel sah, war dort oben etwas. Es war eine Hand, die auf mich zu kam. Da hab ich einfach zugegriffen und daran gezogen. Und schon warst du da.«
»Ich hatte ein Buch vor mir im Bett liegen. Als ich die Seiten berührte ging meine Hand einfach hinein.«
Die beiden lachten, bis Alania plötzlich still wurde.
»Was ist denn ein Bett? So etwas kenne ich gar nicht.«
Nun lachte Leonie, wurde aber schnell wieder ernst und beantwortete viele Fragen, die ihr gestellt wurden. Dafür erfuhr sie aber auch sehr viel von Alania.
Sie befand sich im Land der hohen Berge, von seinen Bewohnern Worlonn genannt. Menschen gab es hier keine, dafür aber unzählige Wesen, große und kleine. Aber keines von ihnen schlief in einem Bett. Das Gemütlichste, was es hier gab, war eine Strohmatte.
»Das ist aber ein komisches Land, in dem ihr wohnt. Ich würde es mir so gerne einmal ansehen. Aber wenn ich nicht wieder zurück in mein Zimmer komme und im Bett liege, wenn Mama nach mir schaut, bekomme ich ganz viel Ärger.«
Alania schaute traurig.
»Du möchtest nicht bei mir bleiben? Ich hätte gerne eine richtige Freundin, die mit mir hier oben sitzt und die Sterne zählt.«
Leonie lächelte.
»Ich will gern deine Freundin sein. Und wir werden auch zusammen die Sterne zählen. Und vielleicht magst du mir auch mal dein Land zeigen. Trotzdem muss ich wieder nach Hause. Aber ich verspreche dir, dass ich zu dir zurück komme.«
Alania freute sich, sprang auf und drückte Leonie an sich.
»Das ist so toll.«
Dann verabschiedeten sie sich voneinander und Leonie sprang in die Luft.
Ehe sie merkte, was wirklich geschah, lag sie bereits wieder in ihrem Bett. Das Buch hatte sich geschlossen.
»Das war vielleicht ein verrückter Traum. So etwas hab ich ja noch nie erlebt.«
Sie schlug das Buch wieder auf und strich über das Papier. Ihre Finger glitten noch immer hinein.
»Es war kein Traum.«, flüsterte sie.
Dann blätterte sie auf die erste Seite, auf der nun Worte aufgetaucht waren. Dort stand:
Leonie war schon ganz früh an diesem Morgen aufgewacht. Sie hatte sich nicht einmal einen Wecker stellen müssen, denn sie war viel zu aufgeregt.
Sie sah auf den großen Kalender an ihrer Wand. Es stimmte. Heute war ihr achter Geburtstag…
(c) 2007, Marco Wittler
Antworten