055. Sternensucher

Sternensucher

Der Morgen war angebrochen, die Sonne kroch langsam über dem Horizont und kletterte am Himmelszelt hinauf. Der Mond fand dies überhaupt nicht in Ordnung. Er hatte noch nie viel für so viel Helligkeit übrig gehabt. Daher verzog er sich ganz schnell und ging einfach unter. Die kleinen leuchtenden Sterne folgten ihm natürlich sofort.
Der Tag begann und die ersten arbeitenden Menschen waren schon auf den Beinen.
Martin, ein junger Bursche war bereits unterwegs und wollte seiner angebeteten Elisa einen Strauß Blumen schenken. Seit ihr ein Paar geworden waren, tat er dies jeden Tag.
Doch als er am Blumenstand an kam, traute er seinen Augen nicht mehr. Es war nicht eine einzige Blume mehr zu finden.
»Aber was soll ich denn jetzt machen?«, fragte er den Verkäufer.
»Tut mir leid, mein Freund. Aber da kann ich dir nicht helfen. Das Schiff mit der neuen Lieferung hat sich verspätet. Es ist noch nicht im Hafen angekommen. Vielleicht gab es draußen auf See einen gefährlichen Sturm und sie mussten einen Umweg nehmen.«
Martin war verzweifelt. Er hatte seiner Freundin versprochen, ihr jeden Tag einen Strauß Blumen zu schenken. Und nun, nach fast zwei Jahren, würde er das erste Mal sein Versprechen nicht halten können.
»Dann geh doch einfach auf die große Wiese hinter der Kirche. Da wachsen ganz viele wilde Blumen, die niemand haben will.«
»Ach nein, das ist nicht das Gleiche. Dort gibt es nur gewöhnliche Blumen. Die wird sie nicht mögen. Ich werde mit wohl etwas anderes überlegen müssen.«
Martin ging enttäuscht zum Hafen hinunter und sah den Segelschiffen hinterher, die ablegten und auf das offene Meer hinaus fuhren.
»Ich hoffe, dass das Schiff mit den Blumen bald ankommt. Vielleicht bekomme ich dann doch noch einen Strauß für Elisa.«, sagte er zu sich selbst.
Aber den ganzen Tag über passierte nichts. Als es dunkel wurde und die Fischerboote zurück kehrten, musste sich Martin enttäuscht geschlagen geben. Er hatte sich bereits damit abgefunden, seiner Freundin die traurige Nachricht zu überbringen.
Doch geschah etwas sehr seltsames. Ein leichter Windstoß wehte ihm die Mütze vom Kopf und trieb sie nun über die Straße.
»He, bleibst du wohl hier. Ich brauche dich noch.«
Martin lief ihr nach, konnte sie aber nicht einholen. Jedes Mal wenn er nach ihr greifen wollte, blies der Wind erneut und die Mütze flog ein weiteres Stück am Hafen entlang.
Schließlich erhob sie sich hoch in die Lüfte, machte einen Bogen und landete auf einem Schiff, das etwas abseits der anderen angelegt hatte.
Martin blieb stehen und besah sich den Kahn. Als etwas anderes hätte auch niemand anderes bezeichnet. Das Holz sah nicht mehr schön aus und die Segel hatten stark ausgefranste Ränder. Es brauchte eine dringende Renovierung.
Als der Steuermann an Deck kam rief ihm Martin entgegen.
»Hey-ho, Seemann.«
»Hey-ho, du Landratte. Was ist dein Begehr?«, kam die Antwort zurück.
Martin ging näher, bis er das Schiff fast berühren konnte.
Ich habe den ganzen Tag auf das Schiff mit den Blumen gewartet, wurde aber enttäuscht. Und nun war ich auf dem Weg zu meiner Liebsten, bis es mir plötzlich die Mütze vom Kopf wehte. Sie liegt nun an Bord eures Schiffes. Ich wollte fragen, ob ich sie zurück bekommen könnte.«
Der Steuermann sah sich um, entdeckte die Mütze, hob sie auf und wedelte damit herum.
»Ist es jene hier? Dieses hässliche Ding nennst du dein Eigen und willst es tatsächlich auf deinen Kopf setzen?«
Er lachte.
»Ich biete dir ein Geschäft an. Du kommst zu mir an Bord und holst dir deine Mütze ab. Wenn du dich bereit erklärst, eine Nacht mit mir zu segeln, um einen Schatz zu finden, dann setze ich dich morgen früh wieder hier ab, werde dich so reich belohnen, dass du dir ein ganzes Land voll Blumen kaufen kannst und schenke dir obendrein noch eine Mütze, die aus dir einen richtigen Mann macht.«
Martin dachte nach.
»Grübel nicht zu lange, denn der Mond geht bald auf und die Sonne verschwindet. Dann müssen wir in See stechen.«
Martin warf seine Bedenken beiseite, winkte aber, bevor er an Bord ging, einen Jungen herbei und sagte ihm: »Geh für mich zu Fräulein Elisa. Sie erwartet mich heute Abend. Bitte richte ihr von mir aus, dass ich mich verspäten werde und erst Morgen zu ihr kommen kann. Dafür werde ich mit einem Geschenk zurück kehren, dass alle Blumen, die ich ihr bisher gebracht habe, in den Schatten stellen wird.«
Er drückte dem Jungen noch einen Silberling in die Hand.
»Sobald du deinen Auftrag ausgeführt hast, ist diese Münze dein.«
Der Junge machte große Augen. So großzügig war noch nie jemand zu ihm gewesen. Er nickte eifrig und lief davon, um seine Aufgabe zu erfüllen.
Martin stieg derweil an Bord.
»Nun denn, Steuermann. Stechen wir in See. Ich bin bereit.«
Er sah sich um.
»Wo ist denn die restliche Besatzung und wo ist der Kapitän?«
Der Steuermann lachte und hielt sich den Bauch.
»Die siehst sie alle vor dir. Ich bin Besatzung, Steuermann und Kapitän. Nur wir zwei werden uns auf den Weg machen. Mehr Hilfe brauchen wir nicht.«
Und als wollten sie seine Worte bestätigen, rollten sich die alten Segel von allein aus und füllten sich sogleich mit Wind.
Martin löste die Seile von der Hafenmauer. Das Schiff stach in See.

Der Hafen war noch nicht weit entfernt, als ein starker Ruck durch das Schiff ging. Etwas schien zu passieren, doch noch war nichts zu sehen.
»Wunderst du dich, was geschehen ist? Dann schau auf das Wasser unter uns.«
Martin tat es und traute seinen Augen nicht. Die Meeresoberfläche entfernte sich. Das Schiff schwebte knapp darüber und hob immer weiter ab. Es war, als würde es dem Himmel entgegen fliegen.
»Ich kann dir genau ansehen, was du denkst. Und ich sage dir, du denkst genau richtig.«
Der Steuermann machte eine ausholende Geste.
»Mein Schiff ist etwas ganz besonderes. Es mag vielleicht etwas schäbig aussehen. Aber dafür ist es das einzige Schiff der Welt, das fliegen kann. Wir fliegen in den Himmel hinein und warten darauf, dass die Sterne auftauchen. Und dann finden wir einen Schatz, er nicht mit allem Gold der Welt zu bezahlen ist.«
Martin sah fasziniert abwechselnd zum Wasser hinab, von welchem er sich immer weiter entfernte, und dann zum Himmel hinauf, in den er nun flog.
»Aber kann uns auch nichts geschehen? Vielleicht stürzen wir plötzlich wieder zurück.«
Doch der Steuermann ignorierte die Angst seines neuen Matrosen.

Eine ganze Weile waren sie geflogen. Das Meer war nur noch zu erahnen. Die Welt lag in tiefem Schlaf, nirgendwo brannte ein Licht.
»Wirf den Anker, du Landratte. Wir sind an unserem Ziel angekommen.«
Martin gehorchte und löste die Ankerkette. Es ratterte einen Moment, dann hielt das Schiff an.
Wie von Geisterhand geführt, rollten sich die Segel ein.
»Schau dich um. Die ersten Sterne tauchen bereits auf. Sie beginnen zu leuchten und füllen den Himmel mit ihrem Licht. Und wenn du genau hin siehst, dann entdeckst du den Schatz, den ich suche.«
Martin sah sich um, konnte aber nichts entdecken.
»Ich weiß nicht, von welchem Schatz du die ganze Zeit redest. Ich sehe hier nichts. Hier sind doch nur die Sterne und die Schwärze der Nacht.«
Wieder lachte der Steuermann und hielt sich erneut den Bauch.
»Du bist jung und hast gesunde Augen. So vieles kannst du sehen. Aber trotzdem bleibt dir das Wichtigste verborgen. Lass das Beiboot hinunter und kletter dann hinein. Wir werden noch ein kleines Stück rudern müssen.«
Ein paar Minuten später fuhren sie durch den Himmel.
»Sieh dich um und sag mir, was du siehst.«
»Es ist noch immer das Gleiche. Nur die Sterne sind hier. Aber weit und breit nicht ein einziger Schatz. Hier gibt es kein Gold, kein Geschmeide, keine Perlen. Nach was suchen wir denn hier?«
Der Steuermann war nun ganz nah bei einem der Sterne angekommen. Er griff danach und verbarg ihn in der Hand.
»Was gibt es schöneres, als einer Frau die Sterne vom Himmel zu holen und sie ihr zum Geschenk zu machen?«
Er öffnete seine Hand und gab Martin den leuchtenden Stern.
»Bring ihr diesen Stern als Geschenk mit. In dunklen Zeiten wird er für euch leuchten. Solange ihr ihn besitzt, wird es für euch niemals finster werden.«
Martin bekam große Augen. Schon oft hatte er Männer sagen hören, dass sie für ihre Frauen die Sterne vom Himmel holen wollten, aber nun hatte er es tatsächlich auch getan.
Dankbar steckte er den Stein ein und half nun mit, noch ein paar weitere in einen kleinen Beutel zu füllen.
»Nun wird es aber Zeit, dass wir uns auf den Rückweg machen. Bald geht der Mond auf. Und wenn er bemerkt, dass wir ein paar seiner Sterne an uns genommen haben, wird er ziemlich sauer werden und uns verfolgen und bestrafen.«
Der Steuermann ruderte zu Schiff zurück und zog mit Martin das Beiboot hoch. Sie holten den Anker ein und die Segel rollten sich wieder aus.

Als sie zurück im Hafen waren, ging die Sonne wieder auf. Ein neuer Tag begann.
Martin ging an Land und verabschiedete sich.
»Warte noch einen Moment. Ich habe noch ein Dankeschön für dich. Deine Hilfe soll schließlich belohnt werden.«
Der Steuermann griff in seinen Beutel und holte einen der Sterne heraus. Er leuchtete so kräftig, dass man am Hafen hätte denken können, die Sonne wäre im Himmel angekommen.
»Dieser Stern soll für schlechte Zeiten sein. Wenn es dir und deiner Liebsten nicht gut geht, wenn ihr in Not seit, dann hol ihn hervor. Du wirst dann schon wissen, wie er dir helfen kann.«

Als Martin bei Elisa an kam, entschuldigte er sich für seine Verspätung und für die fehlenden Blumen. Dafür erklärte er ihr, wo er die letzte Nacht gewesen war.
»Ich glaube dir kein Wort. Aber trotzdem verzeihe ich dir. Vielleicht wirst du mir ja irgendwann die Wahrheit erzählen.«, sagte seine Freundin.
Martin aber zog seine Tasche hervor und holte ein kleines Päckchen hervor.
»Dann öffne dieses Geschenk an dich und überzeuge dich selbst.«
Elisa freute sich und öffnete das Papier. Und da strahlte ihr auch schon der Stern entgegen.
»Ich sehe es, kann es aber noch immer nicht glauben. Du hast mir tatsächlich einen Stern vom Himmel geholt.«
Sie küsste Martin und drückte ihn fest an sich.
»Ich habe noch einen zweiten Stern. Er soll uns für die Zukunft helfen. Ich weiß noch nicht wie, aber der Steuermann sagte, dass ich es bald erfahren würde.«
Er griff erneut in die Tasche und holte einen zweiten leuchtenden Stern hervor. Sein Licht glühte, wurde aber rasch dunkler, bis es ganz verschwand. Zurück blieb ein großer, glitzernder Diamant.
»Damit haben wir für den Rest unseres Lebens ausgesorgt, mein lieber Martin. Wir sind reich und werden niemals Hunger leiden müssen. Die letzte Nacht war für uns beide ein großer Glücksfall.«

Und so kam es dann auch. Martin und Elisa heirateten bald und lebten glücklich und mussten niemals mehr an die ärmeren Zeiten denken.

 (c) 2007, Marco Wittler

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