059. Ein Tag am Meer

Ein Tag am Meer

Nico und Marie waren völlig aus dem Häuschen. Sie hatten gerade erfahren, dass sie das ganze Wochenende über bei Oma verbringen durften.
»Das ist super toll, Mama.«, sagte Marie.
»Dann kann ich endlich wieder ihre leckeren Kekse essen.«
Auch Nico freute sich auf etwas ganz Besonderes.
»Dann kann ich ja wieder stundenlang am Strand spielen.«

Oma wohnte am Meer, an der Nordsee, um genau zu sein. Sie lebte in einem kleinen Häuschen direkt hinter dem Deich, der das Land bei Sturm vor dem Wasser schützte.
Sie wartete schon vor der Tür, als Mama mit den beiden Kindern ankam.
»Hallo Kinder. Ich habe euch schon erwartet. Dann kommt mal schnell rein. Es gibt leckeren Kuchen, einen Kaffee für Mama und Oma und Kakao für euch zwei.«
Nico und Marie jubelten und flitzten sofort in das Esszimmer.
Auf den Tisch stand eine große Sahnetorte.
»Die sieht ja lecker aus.«
Nico sah sich schnell um, bemerkte, dass niemand ihn beobachtete. Er strich vorsichtig mit dem Finger am unteren Rand der Torte entlang und stopfte sich die Sahne in den Mund.
Einen Moment später kam Oma herein.
»Du hast nicht zufällig an der Torte genascht?«
Nico schüttelte den Kopf.
»Aber nein, Oma. Das würde ich doch niemals tun.«
Oma kramte ein Tuch aus ihrer Tasche hervor.
»Dann ist es ja gut. Aber wisch dir die restliche Sahne vom Mund, sonst wird deine Mama noch denken, dass du doch genascht hast.«
Sie zwinkerte kurz und verließ wieder den Raum, um Kaffee und Kakao zu holen.

Nach dem Kaffee fuhr Mama wieder nach Hause.
»Ich hole euch zwei dann Morgen Abend wieder ab. Benehmt euch, streitet euch nicht und ärgert Oma nicht.«
Zum Abschied winkte sie noch einmal und fuhr dann los.

»So, Kinder. Was wollen wir jetzt machen?«
Oma sah ihre beiden Enkel an. Noch bevor die beiden etwas sagen konnten, wusste sie bereits, was nun kommen würde.
»Wir wollen zum Strand.«
»Das hab ich mir doch gleich gedacht. Dann zieht mal eure Jacken an. Am Wasser weht ein kräftiger Wind. Ihr sollt euch ja nicht erkälten.«
Gerade einmal fünf Minuten später waren sie auch schon auf der anderen Deichseite.
»Aber Oma, wo ist denn das ganze Wasser geblieben? Ist das Meer jetzt woanders?«
Nico wunderte sich. Er konnte sich noch ganz genau daran erinnern, dass er beim letzten Besuch im Wasser gespielt hatte. Nun sah er aber nichts anderes als grauen Schlamm.
Marie musste lachen.
»Du bist vielleicht dumm. Das Meer verschwindet doch nicht einfach. Oma hat uns das doch schon beim letzten Mal erzählt. Das nennt man Ebbe und Flut. Bei Flut steigt das Wasser und es kommt bis zum Strand. Bei Ebbe sinkt es und verschwindet für einige Zeit hinter dem Horizont, weil es dann an einer anderen Küste steigt. Das ist doch ganz einfach.«
Nico kratzte sich am Kopf.
»Ach so. Das hab ich doch auch gewusst. Ich wollte nur mal schauen, ob du es nicht vergessen hast.«
Schnell sah er sich um und suchte etwas, womit er das Thema wechseln konnte.
»Seht mal, da vorne an der Mauer ist ein Mann. Was macht der da?«
Oma holte ihre Brille heraus und sah in die Richtung, die Nicos Finger anzeigte.
»Sieh mal einer an. Die Mauer ist eine Schiffsanlegestelle. Wenn die Flut kommt, ist sie fast komplett unter Wasser. Und der Mann ist mein Nachbar Hein. Er sucht am Wochenende immer nach Krabben, um sie zu kochen.«
»Was sind denn Krabben, Oma?«
Marie war nun neugierig geworden und wollte mehr wissen.
»Dürfen wir ihm mal zuschauen?«
Oma nahm die Kinder an der Hand und ging mit ihnen zu Hein.
»Hallo Hein. Schau mal, das sind meine beiden Enkelkinder Nico und Marie. Sie wollten dir beim Sammeln zuschauen und etwas über Krabben erfahren.«
Der Mann kam an den Strand. In seiner Hand hielt er einen Eimer, den er den Kindern vor die Füße stellte.
»Dann schaut mal da rein. Da sind ganz viele Krabben drin. Und auch ein paar Muscheln. Die koche ich mir heute zum Abendessen. Die sind richtig lecker.«
Die Kinder sahen in den Eimer. Darin tummelten sich einige Krebse.
»Die haben aber komische Beine. Die gehen ja immer auf und zu.«
Hein musste lachen.
»Das sind keine Beine. Das sind Scheren. Damit können sie ganz schön feste kneifen. Da muss man aufpassen, dass man sie so anfasst, dass sie die Finger nicht erwischen. Wollt ihr mal einen in die Hand nehmen?«
Die Kinder schüttelten mit den Köpfen. Sie wollten keine Krebse an den Fingern hängen haben.
»Lasst euch mal nicht so einen Blödsinn vom alten Hein erzählen, Kinder. So gefährlich sind die Krabben gar nicht. Eure Oma zeigt euch das mal.«
Sie nahm ein Tier aus dem Eimer und legte es sich auf die Hand.
Nico und Marie kamen näher und besahen sich den Krebs ganz genau von allen Seiten und tippten vorsichtig auf seine Schale.
»Der fühlt sich komisch an. Der hat gar keine weiche Haut, wie wir.«
Oma legte das Tier zurück in den Eimer.
»Im Meer ist es gefährlich. Daher müssen die Krebse gut geschützt sein.«
Marie sah Hein an.
»Und du willst sie wirklich essen? Hast du denn dann kein schlechtes Gewissen? Die isst ja auch niemand auf, oder?«
Oma musste sich ein Grinsen verkneifen.
»Schau mal einer an. Da hat Marie ja nicht ganz unrecht. Bis auf den Hund, der dich letzte Woche durch das Dorf gejagt hat, wollte dich wirklich noch niemand verspeisen.«
Hein überlegte. Aber es fiel ihm nichts ein, was er nun zu seiner Verteidigung vorbringen konnte.
»Was soll ich dazu noch sagen? Da wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als die Tierchen wieder auszusetzen. Dann muss ich heute Abend wohl einen Salat essen.«
Er ging zurück zum Schiffsanleger und winkte die Kinder zu sich.
»Dann müsst ihr mir aber auch helfen, sie wieder auszusetzen.«
Nico und Marie stürmten ihm hinterher und griffen sofort in den Eimer. Jeder Krebs wurde einzeln vor die große Mauer gesetzt, damit sie sich wieder neue Verstecke suchen konnten.

Am Abend rief Mama an und fragte, ob alles in Ordnung sei. Marie antwortete ihr.
»Aber klar doch. Wir haben heute ganz vielen Tieren das Leben gerettet. Und Omas Nachbar Hein isst jetzt nur noch Gemüse. Toll, oder?«

(c) 2007, Marco Wittler

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