060. Der Besucher

Der Besucher

Der Himmel war mit grauen Wolken verhangen und dicke Regentropfen fielen auf die Erde. Bei diesem Wetter wollte man keinen Hund vor die Tür jagen. Auf den Straßen war keine Menschensseele zu sehen. Nur das Prasseln des Regens war zu hören.
Tim saß in seinem Zimmer am Schreibtisch, arbeitete an seinen Hausaufgaben und sah zwischendurch immer wieder aus dem Fenster.
»Das ist richtig gemein. Ich wollte mich doch nachher mit meinen Freunden auf dem Spielplatz treffen.«
Er warf einen Bleistift in die Ecke, lief aber sofort hinterher, da er ihn gerade brauchte.
Er setzte sich zurück und blickte in die Wolken.
»Wann hört das denn endlich auf? Ich will nach draußen.«
Er packte seine Schularbeiten in seine Tasche und lief durch sein Zimmer.
»Was mache ich denn jetzt?«
Er holte seine große Spielzeugkiste und suchte darin herum, fand aber nichts, was ihn interessierte. Also setzte er sich wieder an den Schreibtisch und starrte gelangweilt auf die Straße.
Plötzlich blitzte etwas auf.
»Oh, nein. Jetzt gibt es auch noch ein Gewitter.«
Doch das Licht wurde größer und heller und verschwand nicht wieder. Er schien, als würde es näher kommen, bis es schließlich durch die Wolken kam.
Es war so hell, dass es blendete. Tim musste seine Augen mit der Hand bedecken.
Als er kurz darauf erneut hinaus sah, war das Licht verschwunden.
Tim lief schnell nach unten zu seiner Mutter.
»Mama, da draußen ist etwas. Ich habe ein helles Licht gesehen, das aus dem Himmel kam.«
Seine Mutter warf einen kurzen Blick aus dem Fenster und sah dann ihren Sohn ungläubig an.
»Das hast du dir nur eingebildet. Da draußen regnet es im Strömen. Da ist nichts. Du hast bestimmt nur die Scheinwerfer eines Autos oder eines Flugzeugs gesehen.«
Sie winkte ihn aus dem Zimmer, da sie sich ihren Film im Fernsehen weiter ansehen wollte.
Tim war verärgert. Er wusste, dass er sich nichts eingebildet hatte. Das Licht war eindeutig da gewesen, es war aus dem Himmel gekommen und auf die Erde gestürzt.
»Ich muss heraus finden, was es gewesen ist.«
Als Zeichen seiner Entschlossenheit schlug er sich mit der rechten Faust in die linke Hand. So hatte er es oft bei Papa gesehen.
Dann zog er sich Gummistiefel und Regenmantel an und ging wieder nach unten.
»Ich geh noch nach drüben zu Marvin. Wir wollten uns zum spielen treffen.«
Seine Mutter sagte nur, dass er zum Essen zurück sein sollte, was Tim bejahte. Und dann stand er auch schon im Regen auf dem Gehweg.
Er drehte sich einmal im Kreis, sah in jede Richtung und entschied sich dann für den Stadtpark.
Es dauerte ein paar Minuten, bis er vor dem großen Eisengittertor stand und hindurch sah. Nun bekam er doch ein mulmiges Gefühl im Magen.
»Soll ich oder soll ich nicht?«
Er überlegte noch einmal kurz, stieß dann das Tor auf und marschierte den breiten Kiesweg entlang.
Es dauerte nicht lange, bis er fand, was er suchte. Auf einer großen Wiese war ein ein großes Loch im Boden. Was auch immer hier abgestürzt war, hatte einen großen Krater in die Erde gerissen.
»Du meine Güte.«, flüsterte Tim vor sich hin.
»Das muss aber ziemlich schnell gewesen sein.«
Er kletterte hinab und suchte. Doch das war gar nicht so einfach. Der Boden war heiß und es dampfte überall. Man konnte kaum etwas sehen. Aber plötzlich sah er einen großen Schatten.
»Das muss es sein.«
Er lief hin und entdeckte ein silbernes Raumschiff. Es war nur wenige Meter hoch und lang. Er umrundete es einmal und besah es sich von allen Seiten, bis sich schließlich eine Luke öffnete und ein kleiner Mann daraus hervor kam, der gerade einmal so groß, wie Tim selber war.
»Hallo, Fremder, geht es dir gut? Hast du dich verletzt?«
Der Fremde sah erschöpft und traurig aus.
»Ja, es geht mir gut Erdling. Nur ist mir leider auf dem Weg zur Venus der Treibstoff ausgegangen. Deswegen ist mein Raumschiff auf deinen Planeten gestürzt. Und nun komme ich hier nicht mehr weg.«
Tim überlegte, aber es fiel ihm auch nichts ein, wie er dem unfreiwilligen Besucher helfen konnte.
»Was hältst du davon, wenn wir ein wenig hier im Park spazieren gehen und du mir etwas von dir erzählst. Bin so wahnsinnig neugierig darauf. Und vielleicht fällt uns dann gemeinsam eine Lösung ein.«
Der kleine Mann willigte ein. Er wusste auch nicht, was er sonst hätte unternehmen können.

Eine ganze Stunde liefen sie gemeinsam durch den Regen, geschützt durch ein unsichtbares Feld, das die Tropfen abhielt.
»Dein Planet ist so unglaublich schön. Ich habe noch nie einen gesehen, der es mit eurer Erde hätte aufnehmen können. Eure Bäume sind so riesig wunderschön. Auf der Venus gibt es nur Wüste und kleine trockene Pflanzen.«
Plötzlich blieb der kleine Mann stehen. Er sah sich um, kratzte sich am Kopf, sah sich erneut um und rieb sich am Kinn.
»Ja genau, das ist es. Das ist die Lösung.«
Er lief zu einem der Bäume, Tim rannte sofort hinter im her.
Der kleine Mann riss ein paar Blätter von den Bäumen und schnupperte daran.
»Die sind ja viel besser, als ich es mir gedacht hatte.«
Er hüpfte wie wild im Kreis und freute sich so sehr, als hätte er gerade einen wichtigen Preis gewonnen.
»Schau dir das an, Erdling. Das hier ist die Lösung. So werde ich wieder nach Hause kommen. Aber ich brauche diene Hilfe.«
Tim verstand nichts.
»Weißt du, mein Raumschiff, das fliegt mit den Blättern einer kleinen Pflanze von der Venus. Und da es nicht viele von ihnen gibt, ist die Raumfahrt sehr teuer und viele Schiffe machen unterwegs schlapp oder stürzen ab, weil ihr Blättervorrat zu Ende gegangen ist. Und als ich dann diesen Baum hier sah, wusste ich, dass es die gleiche Pflanze ist, nur viel größer.«
Er zeigte mit dem Finger auf eine Kastanie.
»Ich hätte nie gedacht, dass sie bei anderem Wetter so groß werden und so viele Blätter tragen würden.«
Jetzt musste Tim lachen.
»Und wir ärgern uns immer im Herbst, wenn die vielen Blätter herab fallen und wir nicht wissen, wohin damit.«
Er half dem kleinen Mann, einen Sack voller Blätter einzusammeln, mit denen sie den Tank des Raumschiffs füllten.
»Ich danke dir, mein Freund von der Erde. Ohne deine Hilfe, wäre ich nie wieder von hier weg gekommen. Ich verspreche dir, dass ich bald wieder kommen werde. Im Herbst werde ich mit ein paar Freunden zu euch kommen und wir befreien euren Planeten von den vielen Blättern, die von den Bäumen fallen.«
Er schüttelte Tim noch einmal die Hand, stieg in sein Raumschiff und flog davon.

Als Tim nach Hause kam, erzählte er seiner Mutter nichts von seinem Erlebnis. Sie würde es ihm auch niemals glauben.

(c) 2007, Marco Wittler

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