072. Mutter Natur und Väterchen Frost oder „Papa, warum ist der Winter so kalt?“ (Papa erklärt die Welt 5)

Mutter Natur und Väterchen Frost
oder »Papa, warum ist der Winter so kalt?«

Sophie saß vor dem knisternden Kaminfeuer und wärmte sich auf. Durch die große Glasscheibe konnte die die Flammen sehen, die beständig aus dem Holz heraus züngelten.
»So ein Feuer ist eine wirklich schöne Sache.«, sagte sie.
In ihren Gedanken war sie noch draußen vor dem Haus. Sie war den ganzen Nachmittag mit dem Schlitten einen Hügel herab gefahren. Es hatte ihr so viel Spaß gemacht, dass sie am liebsten gar nicht mehr ins Haus gekommen wäre. Doch als die Sonne unterging, wurde es schnell noch kälter, als es eh schon war und sie begann zu frieren.
Nun saß Sophie im Wohnzimmer und sah in die Flammen.
»Es ist schade, dass man den Kamin nicht mit nach draußen nehmen kann, dann würde ich mich nach jeder Schlittenfahrt an ihm aufwärmen und die ganze Nacht draußen bleiben.«
»So weit kommt es noch.«, antwortete Papa.
»Die Nacht ist zum Schlafen da. Mit dem Schlitten kannst du auch morgen noch fahren. So schnell wird der Schnee nicht verschwinden. Es ist ja doch ziemlich kalt.«
Sophie ging ein Gedanke durch den Kopf.
»Papa, warum ist der Winter eigentlich so kalt?«
Papa musste nachdenken. Doch dann schien ihm etwas einzufallen.
»Mir fällt da eine Geschichte ein. Sie handelt vom Winter. Und die werde ich dir jetzt erzählen.«
Sofie strahlte über das ganze Gesicht.
»Oh ja, eine Geschichte.«
»Und wie fängt eine Geschichte immer an?«, fragte Papa.
Sofie lachte schon voller Vorfreude und antwortete: »Ich weiß es. Sie beginnt mit den Worten ›Es war einmal‹.«
»Ja, das stimmt. Absolut richtig. Also, es war einmal …«

Es war einmal eine Zeit, in der es noch keinen Winter gab. Jeden Tag war es warm und niemand musste frieren. Das ganze Jahr über gab es nur eine einzige Jahreszeit. Daher hatte sie auch keinen Namen. Die Blumen und Bäume blühten, wann es ihnen passte und genau so taten es die Früchte auch. Man konnte sie jeden Tag ernten und essen.
Mutter Natur wachte über die Erde. Sie sorgte dafür, dass alles wuchs und gedieh. Sie liebte die Pflanzen und Tiere so sehr, dass sie sich nichts anderes mehr vorstellen konnte. Sie hatte eine Aufgabe, die sie ganz und gar ausfüllte. Aber trotzdem war nicht glücklich, denn Mutter Natur war allein.
Jeden Tag, wenn sie einen Spaziergang machte, sah sie Tiere und Menschen, die als Paare durch die Gegen streiften. Selbst die Pflanzen und Bäume standen immer in Gruppen zusammen.
»Warum bin ich als einzige noch allein? Warum gibt es keinen Vater Natur?«
Diese Frage stellte sie sich ständig, aber eine Antwort darauf gab es nicht. Schließlich machte sie sich auf die Suche. Sie bereiste die ganze Welt, ging von einem Ort zum anderen, suchte unter jedem Stein und in jeder Höhle, aber fündig wurde sie nicht.
Da wurde Mutter Natur sehr traurig und ihr Herz wurde schwer.
»Es kann doch nicht sein, dass ich das einzige Wesen dieser wunderschönen paradiesischen Erde bin, dass sein Leben in Einsamkeit fristen muss. Irgendwo muss einen Mann für mich geben, der mich liebt und der mit mir leben will. Aber wo ist er nur?«
Nach ein paar Jahren gab sie ihre Suche auf. Es hatte keinen Sinn einem Traum hinterher zu jagen. Außerdem hatte sie ihre Aufgabe vernachlässigt. Mittlerweile wuchsen an vielen Stellen der Erde große, undurchdringliche Wälder aus dem Boden. Dem musste Einhalt geboten werden.
Eines Tages begab sich Mutter Natur in einen solchen Wald. In seinem Innern war es dunkel und kalt. Es drang keine Sonne durch das dichte Blätterdach hinab an den Boden. Es war so kalt, dass sich Mutter Natur ein paar Kleidungsstücke mehr anziehen musste.
»Ich hätte mich schon viel eher um dieses Problem kümmern sollen. In diesem Wald ist es viel zu kalt für Tiere und Menschen. Sie werden bestimmt in wärmere Gegenden geflüchtet sein.«
Sie ging immer tiefer in diesen Urwald hinein. Schließlich war sie in seiner Mitte angelangt. Sie wusste, dass sich dort ein kleiner See befinden musste.
»Hoffentlich geht es den Fischen gut. Sie können nicht weglaufen, wenn es ihnen zu kalt wird.«
Doch als sie an kam, war sie entsetzt. Der See war nicht mehr was er einmal war. Seine Oberfläche schien hart wie Stein und sah wie ein großer flacher Spiegel aus.
Mutter Natur rannte sofort hin, lies sich auf ihre Knie nieder und befühlte, was sie erblickt hatte.
»Das Wasser ist so kalt geworden, dass es eingefroren ist.«
Sie klopfte ein paar Mal mit den Finger gegen das Eis, bis sie schließlich ein paar Fische sah.
Sie war erleichtert. Unter dem Eis war noch genug Wasser, dass die Fische überleben konnten.
Mutter Natur stand wieder auf wagte sich weiter vor. Sie betrat vorsichtig das Eis und bewegte sich in die Mitte des Sees. Und plötzlich passierte es. Sie rutschte aus und fiel hin. Sie versuchte sich noch abzustützen, aber ritzte sich dabei die Hand an einem Ast auf, der aus dem Eis heraus ragte. Ein Tropfen Blut kam aus der Wunde und fiel auf das Eis. Und schon geschah etwas ganz Sonderbares.
Mutter Natur kroch vorsichtig zurück an das Ufer. Erst dort richtete sie sich wieder auf besah sich ihre Hand. Die Wunde hatte sich mittlerweile wieder geschlossen. Aber dennoch konnte sie sich nicht daran erinnern, sich jemals verletzt, geschweige denn Blut verloren zu haben.
Und dann wurde es kalt, noch viel kälter, als es eh schon gewesen war. Schneeflocken fielen vom Himmel herab und alles wurde innerhalb von wenigen Minuten weiß.
»Du meine Güte, was ist denn das, und warum ist es auf einmal so kalt?«
Mutter Natur verstand nicht, was geschah. Sie sah sich um und erblickte etwas auf dem Eis.
Dort, wo sie sich verletzt hatte, richtete sich ein großer und stattlicher Mann auf. Er hatte einen langen weißen Bart und einen dunkelblauen Mantel an.
»Wer bist du und was hast du mit diesem Wald angestellt?«
Der Mann kam langsam näher und lächelte.
»Entschuldige bitte. Aber es war mir etwas zu warm. Da habe ich es schneien lassen. Denn das ist es, was ich am besten kann.«
Er streckte eine Hand zur Begrüßung aus, die Mutter Natur nur zögerlich annahm.
»Ich bin der Winter, aber du darfst auch Väterchen Frost zu mir sagen.«
Mutter Natur sah ihm tief in die Augen und begriff langsam, woher der Mann gekommen war. Sie hatte sich auf dem Eis verletzt und aus einem Tropfen ihres Blutes war der Winter entstanden.
»Deine Annahme ist genau richtig. Ich lebe erst seit ein paar Minuten und bin ein Teil von dir, auch wenn ich anders bin, was aber an dem Eis liegt, auf dem ich geboren wurde.«
Es war als könne dieser Mann Gedanken lesen.
Mutter Natur war begeistert vom Winter. Es kam ihr vor, als habe sie endlich gefunden, wonach sie ihr Leben lang gesucht hatte.
Sie wünschte sich so sehr, dass sie in ihm die wahre Liebe gefunden hatte. Und doch hatte sie Angst davor. Denn wenn sie mit ihm zusammen leben würde, würde die Erde unter Schnee und Eis begraben werden und sterben. Sie hatte ein großes Problem.
Der Winter zog einen magischen Stab aus seiner Tasche und schuf aus Schnee und Eis eine große Bank.
»Setz dich zu mir und höre mir zu.«, sagte er.
»Ich fühle ebenso wie du. Und ich möchte mein ganzes Leben mit dir verbringen. Doch das wird für die Erde zur Gefahr. Aber ich habe eine Lösung, die uns beide glücklich machen wird.«
Er stand auf und kniete sich vor Mutter Natur auf den Boden. Er sah ihr tief in die Augen.
»Wir werden auf Reisen gehen. Wir bauen uns ein Winterschloss in einer verlassenen Gegend. Dort kann es dann schneien, so viel und so oft es will. Dort werde ich die meiste Zeit des Jahres verbringen. Du kannst so oft bei mir sein, wie du möchtest und es deine Aufgaben zulassen. Und für die restlichen Monate werde ich dich begleiten. Wir sehen uns zusammen die Erde an und verzaubern sie in eine weiße Märchenwelt. Du wirst sehen, dass es den Menschen gefallen wird.«
Mutter Natur hörte sich das alles an und war mit dem Vorschlag einverstanden. Das war die beste Lösung von allen. Und von nun an musste sie nie wieder allein sein.

Sophie saß noch immer vor dem Kamin. Mittlerweile war es ihr aber warm genug. Sie hatte sich Papas Geschichte angehört, war aber noch nicht so ganz davon überzeugt, die Wahrheit gehört zu haben.
Sie lachte plötzlich, stand auf und setzte sich auf Papas Schoß.
»Ich glaube dir kein Wort davon. Aber trotzdem bist du der beste Papa der Welt.«
Sie drückte sich an ihn und lies sich in den Arm nehmen.
»Und morgen darf ich wieder mit dem Schlitten den Berg runter fahren?«
Papa nickte. 

(c) 2008, Marco Wittler

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