1007. Flaschenpostbote Knut entdeckt den Strand (Flaschenpostbote Knut 02)

Flaschenpostbote Knut entdeckt den Strand

Knut zog sich die blaue Jacke über, strich die Ärmel glatt und sah sich prüfend im Spiegel an. Etwas fehlte da noch. Ach, ja. Die passende Schirmmütze gehörte unbedingt auf den Kopf. Er legte den breiten Ledergürtel und seine große, schwere Tasche um. Zuletzt rückte er das Schild mit der Aufschrift FLASCHENPOST auf der Brust zurecht und nickte endlich. Er war fertig und konnte in den Tag starten.

Der Meermann, verließ er sein Haus und schwamm los. Die Flaschenpost musste ausgeteilt werden. Sein Weg führte ihn wie immer zuerst zur nahen Grundschule, wo die Kinder am Zaun schon auf ihn warteten.
»Knut!«, stürmten sie laut rufend auf ihn zu. »Kannst du uns eines deiner verrückten Erlebnisse erzählen?«
Knut strich sich seinen Schnurrbart zurecht, dachte kurz nach und begann zu grinsen.
»Mir fällt da etwas ein. Ich habe neulich eines der schönsten Dinge gesehen, die es auf der Welt gibt.«
Auf dem Schulhof wurde es mucksfischchenstill, als Knut zu erzählen begann.

Der lange und harte Arbeitstag war vorbei. Flaschenpostbote Knut hatte in den letzten Stunden mehrere hundert Briefe, die in Flaschen steckten, in der Stadt ausgetragen und war nun müde und erschöpft. Seine große Flosse,die er statt Beinen am Unterleib besaß, tat gehörig weh.
»Ich brauche unbedingt eine Auszeit.«, stöhnte er laut. »Ich weiß schon gar nicht mehr, warum ich das als junger Mann schaffen konnte, ohne danach nur noch schlafen zu wollen. Ich werde auf meine alten Tage wohl tatsächlich alt.«
Knut schwamm langsam nach Hause, erreichte das Tor seines Gartenzauns und zögerte. Er schüttelte den Kopf.
»Ich stehe jeden Morgen auf, verteile die Flaschenpost, komme zurück nach Hause, mache Abendessen und verschwinde ins Bett. Das kann doch nicht alles im Leben sein. Das ist doch viel zu langweilig. Ich muss mal etwas verändern, etwas anderes zu Gesicht bekommen.«
Knut legte seine schwere Ledertasche ab und schwamm die Straße weiter entlang. Bis zur Stadtgrenze war es nicht weit und es hatte ihn schon immer interessiert, was sich dahinter befand. Vielleicht war genau jetzt der richtige Tag, um die Welt da draußen zu erforschen.
Nachdem der Meermann die letzten Häuser hinter sich gelassen hatte, endete auch schnell die gewohnte Straße. Der Boden ging in Sand und Geröll über. Zwischendurch gab es kleine Felder aus Seegras und Korallen, in denen kleine Fische etwas zu Futtern suchten.
»Ich liebe die Natur.«, schwärmte Knut. »Ich war schon viel zu lange nicht mehr hier draußen. Ich frage mich wirklich, warum ich das nicht öfter mache?«
Irgendwann blieb Knut stehen. Vor ihm bäumte sich ein riesiger Berg auf, dessen oberes Ende nicht zu sehen war.
»Du meine Güte! Wer hat den denn hierher gestellt? So einen großen Berg habe ich noch nie gesehen.«
Er war sich nicht sicher, was er machen sollte, entschied sich dann aber doch dazu, hinauf zu schwimmen. »Von da oben hat man bestimmt eine grandiose Aussicht auf die Stadt.«
Knut schwamm und schwamm. Der Weg nach oben war ganz schön anstrengend. Das hatte er gar nicht erwartet, denn die Straßen in der Stadt waren alle ebenerdig.
Irgendwann kam der Meermann in eine Zone, die seltsam war. Das Meer endete, der Berg stieg aber weiter an.
»Was ist das denn? Was geht hier vor? Ich dachte das Meer wäre in alle Richtungen unendlich.«
Vorsichtig streckte Knut die Hand nach oben aus, ließ sie aus dem Wasser auftauchen.
»Tut gar nicht weh.«
Es probierte es mit dem Kopf und sah die Wasseroberfläche das erste Mal von der anderen Seite, sah die Wellen und den Himmel.
»Zum Neptun. Was ist das hier für eine Welt?«
Knut kroch nun ganz aus dem Wasser, ließ sich auf dem warmen Sand davor nieder und sah sich um. Er saß auf einem Strand, der ihm einen unglaublichen Ausblick über seine Heimat, dem Ozean bot. Gerade in diesem Augenblick ging die Sonne unter, färbte den blauen Himmel orange und brachte die Wasseroberfläche zum glitzern, als schwämmen dort unzählige Diamanten.
»Welch ein Traum in Farben. Das hat noch keiner meines Volkes gesehen.«
Knut blieb am Strand sitzen, bis es dunkel wurde und die ersten Sterne am Firmament funkelten. Doch das war eine Geschichte, die er an einem anderen Tag erzählen wollte. Mit einem seligen Gefühl machte sich der Meermann auf den Weg zurück in die Stadt.

Die Kinder der Grundschule sahen Knut mit großen Augen an. Vom Sonnenuntergang, von Strand und einem Ende des Meeres hatten sie noch nie etwas gehört. Es hörte sich auch alles so unglaublich und fantastisch an.
»Ihr könnt mir glauben, alles was ich erlebt habe, ist wahr. Das Ende unserer Welt mit seinen umwerfenden Farben befindet sich kurz hinter unserer schönen Stadt.«
Knut winkte noch einmal zum Abschied, machte sich wieder auf den Weg und verteilte die restliche Flaschenpost.

(c) 2021, Marco Wittler


Bild: Nik Karlov auf Pixabay

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*