1016. Flaschenpostbote Knut kann nichts sehen

Flaschenpostbote Knut kann nichts sehen

Knut zog sich die blaue Jacke über, strich die Ärmel glatt und sah sich prüfend im Spiegel an. Etwas fehlte da noch. Ach, ja. Die passende Schirmmütze gehörte unbedingt auf den Kopf. Er legte den breiten Ledergürtel und seine große, schwere Tasche um. Zuletzt rückte er den Seestern auf der Brust zurecht und nickte endlich. Er war fertig und konnte in den Tag starten.

Der Meermann, verließ er sein Haus und schwamm los. Ihm folgte ein großer Krake, der die restlichen Taschen in seinen Armen hielt. Die Flaschenpost musste ausgeteilt werden. Sein Weg führte ihn wie immer zuerst zur nahen Grundschule, wo die Kinder am Zaun schon auf ihn warteten.
»Knut! Fiete! Enno!«, stürmten sie laut rufend auf die Drei zu. »Könnt ihr uns eines eurer verrückten Erlebnisse erzählen?«
Knut strich sich seinen Schnurrbart zurecht, dachte kurz nach und begann zu grinsen.
»Mir fällt da etwas ein. Wir waren neulich in der Stadt unterwegs, als es so dunkel, dass man seine Hand nicht mehr vor Augen sehen konnte. Davon werde ich euch berichten.«
Auf dem Schulhof wurde es mucksfischchenstill, als Knut zu erzählen begann.

Flaschenpostbote Knut war mit seinen Kollegen Krake Fiete und Seestern Enno in der Stadt unterwegs, um die Flaschenpost auszutragen. Jeden Meermann und jede Meerfrau, die sie trafen, wurden von Ennos tiefer, brummenden Stimme begrüßt. So ein Brustschild war schon einzigartig.
Mitten auf dem alten Marktplatz zog Knut eine Flasche aus seiner ledernen Umhängetasche. Er wollte gerade die Empfängeradresse lesen, als eine kräftige Strömung durch die Stadt zog und eine Menge Staub und Sand vom nahen Riff durch die Straßen trieb. Es war praktisch unmöglich, etwas zu sehen.
»Beim Neptun! Ein Sturm zieht auf!«, rief Knut seinen Kollegen zu und suchte verzweifelt nach einem Halt. Bevor er aber fort getrieben werden konnte, griff Fiete mit seinen Armen nach ihm und hielt ihn fest.
Das Unwetter ging so schnell, wie es gekommen war, der Dreck hielt sich jedoch hartnäckig.
»Moin!«, war Enno zu hören, der zwar wusste, dass er noch immer auf Knuts Brust saß, dies aber nicht sehen konnte.
»Wir müssen uns etwas einfallen lassen. So können wir auf keinen Fall unsere Tour fortsetzen.«, sagte Knut. »Es ist so dunkel, als wäre es eine sternenlose Nacht.«
Er dachte nach. Was sollten sie nun unternehmen? Die Flaschenpost war immer pünktlich. An keinem einzigen Tag war Knut irgendwo zu spät gekommen. Das durfte sich auch heute nicht ändern.
»Wir müssen schnellstens etwas unternehmen.«
Knut zeigte mit der Hand nach oben. Es fiel ihm aber sofort auf, dass wenn er seinen eigenen Zeigefinger nicht sehen konnte, es den anderen ähnlich erging.
»Wir tauchen auf. Eine Lösung gibt es nur über der Meeresoberfläche.«
Knut wedelte kräftig mit seiner Schwanzflosse, während Fiete mit allen acht Armen paddelte. Enno ließ sich einfach tragen. Nachdem die drei Flaschenpostboten aufgetaucht waren, zeigte Knut auf den nahen Leuchtturm, der sein Licht weit über das Meer erstrahlen ließ.
»Dort drüben steht unsere Lösung.«
Knut schwamm ans Ufer und winkte dem Leuchtturmwärter zu. »Guter Mann, unter dem Meer hat es einen Sturm gegeben. Es ist uns unmöglich, etwas zu sehen. Es wird noch Stunden dauern, bis sich der Staub wieder gelegt hat. Kannst du uns mit deinem kräftigen Licht aushelfen?«
Der Leuchtturmwärter, ein Mann weniger Worte nickte nur, drehte etwas an seiner Lampe und lenkte das Licht nach unten.
Die Flaschenpostboten bedankten sich und tauchten wieder ab. Nun war die Stadt, trotz des Staubs, hell erleuchtet. Nun konnte die Flaschenpost pünktlich ausgetragen werden.

Die Kinder der Grundschule sahen Knut und Fiete mit großen Augen an. An den Staub und das helle Licht von oberhalb der Meeresoberfläche konnten sie sich noch erinnern, aber von einem Leuchtturm hatten sie noch nie etwas gehört.
»Ihr könnt uns glauben, alles was wir erlebt haben, ist wahr.«
Knut, Fiete und Enno der Seestern winkten noch einmal zum Abschied, und machten sich wieder auf den Weg.

(c) 2021, Marco Wittler

Bild: Nik Karlov auf Pixabay

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