1017. Flaschenpostbote Knut sieht der Gefahr ins Maul

Flaschenpostbote Knut sieht der Gefahr ins Maul

Knut zog sich die blaue Jacke über, strich die Ärmel glatt und sah sich prüfend im Spiegel an. Etwas fehlte da noch. Ach, ja. Die passende Schirmmütze gehörte unbedingt auf den Kopf. Er legte den breiten Ledergürtel und seine große, schwere Tasche um. Zuletzt rückte er den Seestern auf der Brust zurecht und nickte endlich. Er war fertig und konnte in den Tag starten.

Der Meermann, verließ er sein Haus und schwamm los. Ihm folgte ein großer Krake, der die restlichen Taschen in seinen Armen hielt. Die Flaschenpost musste ausgeteilt werden. Sein Weg führte ihn wie immer zuerst zur nahen Grundschule, wo die Kinder am Zaun schon auf ihn warteten.
»Knut! Fiete! Enno!«, stürmten sie laut rufend auf die Drei zu. »Könnt ihr uns eines eurer verrückten Erlebnisse erzählen?«
Knut strich sich seinen Schnurrbart zurecht, dachte kurz nach und begann zu grinsen.
»Mir fällt da etwas ein. Wir waren neulich im fiesesten Viertel der Stadt unterwegs. Dort sind wir dem gefährlichsten Typen begegnet, den es überhaupt gibt. Davon werden wir euch berichten.«
Auf dem Schulhof wurde es mucksfischchenstill, als Knut zu erzählen begann.

Flaschenpostbote Knut war wieder mit seinen Kollegen in der Stadt unter dem Meer unterwegs, um die Flaschenpost zu verteilen. Briefkasten um Briefkasten füllten sie, Briefe wurden zugestellt und manchmal war auch die eine oder andere Rechnung dabei. Nicht immer waren die Empfänger glücklich, über das was sie bekamen, aber es gab auch die ganz seltenen Momente, in denen Meermann oder Meerfrau den Boten vor Freude um den Hals fielen. Das hatte dann meist mit Liebesbriefen zu tun, manchmal aber auch mit einem großen Lottogewinn.
An diesem Morgen waren Knut, sein Taschenträger und Krake Fiete und der Seestern Enno auf Knuts Brust in einem dunklen Viertel der Stadt unterwegs. Hier lebten nur zwielichtige Gestalten, Verbrecher und andere Personen, denen man weder im Hellen und erst recht nicht in der Dunkelheit über den Weg schwimmen wollte. Jeder Meermann und jede Meerfrau mieden diese Gegend. Aber Flaschenpostboten hatten keine andere Wahl. Auch hier musste die Post zugestellt werden.
Knut hatte in den langen Jahrzehnten seines Dienstes bei der Flaschenpost gelernt, dass es hier ganz bestimmte Regeln gab, an die man sich besser halten sollte. Dazu gehörte auch, dass Glasflaschen, so umweltfreundlich sie gegenüber Plastik waren, öfter durch die Gegend fliegen konnten. Das gab dann schnell Scherben am Boden oder eine Beule am Kopf. Deswegen entschied er sich in diesem Viertel dann auch für schmerzfreieres Plastik. »Da wird die Beule dann nur halb so groß.«, hatte er seinen Kollegen immer wieder erklärt.
Noch bevor die drei Flaschenpostboten die erste Flasche zustellen konnten, erblickten sie einen großen, dunklen Schatten in einer Seitenstraße, in dem zwei grimmige Augen glommen.
»Beim Neptun!«, erschrak sich Knut. »Schaut ihn bloß nicht an. Schwimmt einfach weiter und tut so, als hättet ihr ihn nicht gesehen. Schnell weg hier.«
Aber es war bereits zu spät. Die Augen des Schattens verengten sich zu zwei schmalen Schlitzen. Dann setzte er sich in Bewegung und folgte den Dreien.
Knut sah sich ängstlich um. Das, was er befürchtet hatte, war nun eingetroffen. Sie wurden von ihm verfolgt.
Fiete, der große Krake mit den acht starken Armen blickte ebenfalls zurück. »Ah! Ein Hai.«
Ihn packte die nackte Angst. Er schleuderte die acht ledernen Umhängetaschen von seinen Armen fort, drückte eine große Menge Tinte aus sich heraus und verschwand mit ihr.
Knut gab nun Gas. Er musste dem riesigen Hai entkommen. An das letzte Zusammentreffen mit ihm hatte er noch lebhafte Erinnerungen, die er nicht wiederholen wollte.
Es ging kreuz und quer durch das ganze Viertel, mal bog er nach links, mal nach rechts ab. Irgendwie musste man doch den Verfolger abschütteln können. Aber stattdessen holte er sogar noch auf.
Nach einigen Minuten schwamm der Hai etwas höher, überholte den Meermann und blockierte ihm den Weg. Knut gab schwer atmend auf. Er konnte ihm nicht entkommen.
Enno, der kleine Seestern auf Knuts Brust grinste den Hai an und begrüßte ihn mit seiner äußerst ungewöhnlich tiefen Stimme. »Moin!«
»Was willst du schon wieder von mir?«, fragte Knut völlig außer Atem.
Der Hai kam langsam näher, bis er nur noch wenige Zentimeter von Knuts Gesicht entfernt war. Dann öffnete er langsam sein riesiges Maul mit den großen, messerscharfen Zähnen.
»Ich habe voll die Zahnschmerzen, Doktor. Ich brauche Hilfe.«
Knut erblickte sofort den schwarzen in der hinteren Reihe. Auch wehte ihm ein übler Geruch in die Nase. »Du brauchst tatsächlich Hilfe. Aber merk es dir doch endlich mal. Ich bin nicht dein Zahnarzt. Ich bin nur der Flaschenpostbote.«
Der Hai kam noch näher, nahm Knut genau ins Auge. »Bist du sicher, dass du nicht der Doktor bist? Du siehst aus wie er. Bitte hilf mir. Ich habe Zahnschmerzen.«
Knut seufzte laut. »Und mach dir mal einen Termin beim Optiker. Eine Brille brauchst du auch, wie es scheint.«
Während sich die beiden unterhielten, hatte sich Enno unbemerkt von Knuts Brust gelöst und war ins Maul des Hais geschwommen. Dort setzte er nun seine kleinen Arme an den schwarzen Zahn und zog ihn einfach aus dem Kiefer heraus.
»Moin!«, sagte er stolz zu sich selbst und machte sich aus dem Staub.
»Schon besser.«, war der Hai glücklich. »Du bist doch der Doktor.«
Knut schüttelte erneut den Kopf. Diesem dummen Hai war einfach nicht mehr zu helfen.«

Die Kinder der Grundschule sahen die Flaschenpostboten mit großen Augen an. In das Viertel des Hais hätten sie sich niemals getraut.
»Ihr könnt uns glauben, alles was wir erlebt haben, ist wahr.«
Knut, Fiete und Enno der Seestern winkten noch einmal zum Abschied, und machten sich wieder auf den Weg.

(c) 2021, Marco Wittler

Bild: Nik Karlov auf Pixabay

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