1029. Donnergrollen in der Ferne

Donnergrollen in der Ferne

Gemütlich saß der alte Schäfer auf einem Stein und achtete auf die Herde, die ihm anvertraut worden war. Die Sonne, die hoch über ihm stand, war schon dabei, ihm kräftig den Nacken zu verbrennen, als aus der Ferne ein leises Grollen zu hören war.
Zuerst nahm der Schäfer das Geräusch nicht wahr. Seine Ohren waren schon lange nicht mehr die Besten. Doch irgendwann war das Grollen nicht mehr zu überhören.
Er sah sich um und suchte den Himmel nach dicken, grauen Wolken ab, konnte aber keine entdecken. Da es auch um sein Augenlicht nicht mehr ganz so gut bestellt war, zuckte er zunächst mit den Schultern und wartete ab.
Irgendwann wurden die Schafe unruhig und der Hund des Schäfers begann zu bellen.
»Was geht hier vor sich?«, fragte sich der Alte und sah sich ein weiteres Mal um. So schlecht waren seine Augen nun auch wieder nicht, dass er einen blauen Himmel nicht von einem grauen unterscheiden konnte. Das Wetter war in allen Richtungen makellos schön. Es gab nicht einmal Schäfchenwolken zu entdecken.
»Warum donnert es, wenn es kein Gewitter gibt? Das macht doch gar keinen Sinn.«
Der Schäfer stand auf, ging einmal im Kreis um den Stein herum und warf einen Blick hinter das kleine Wäldchen, an dessen Rand sich die Weide befand. Doch auch dort war der Blick nach oben klar.
Er bekam es mit der Angst zu tun. Er hatte seit seiner Jugend Schafe gehütet und mehr Zeit unter freiem Himmel verbracht als irgendein anderer Mensch aus dem Dorf. Ihm machte niemand etwas vor, wenn es um die Deutung der Wetterzeichen ging. Aber das hier war neu, so ganz anders. Das hatte es in all der Zeit nie gegeben.
»Seit wann können sich Gewitter unsichtbar machen?«
Er schnappte sich seinen Hirtenstab und, gab dem Hund Bescheid, die Schafe allein zu bewachen und machte sich auf den Weg, das Wäldchen zu umrunden. Vielleicht fanden sich die Antworten auf seine Fragen dort. Immerhin stammten die Geräusche von der anderen Seite.
Nach ein paar Minuten konnte er ins Nachbartal hinab blicken und staunte. Dort saß ein Riese am Bach und kochte über einem großen Feuer in einem Topf.
»Hey, ihr dort drüben. Was köchelt ihr Feines und habt ihr auch das Donnergrollen vernommen?«
Der Riese sah zum Schäfer,bekam einen roten Kopf und lächelte verlegen.
»Dicke Bohnen sind es, mein Bester. Ich habe schon eine Portion zu mir genommen. Das Grollen ist kein Gewitter, es sind die lauten Winde, die meine Hose zum Flattern und das Tal zum Stinken bringen.«
Es grollte wieder. Eine mächtige Wolke des Gestanks wehte zum Schäfer herüber und ließ ihn seine Nase rümpfen. Schnell machte er sich aus dem Staub und marschierte zurück zu seiner Herde.

(c) 2021, Marco Wittler


Bild: OpenClipart-Vectors auf Pixabay

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