1168. Ein Vogelhäuschen für den Winter

Ein Vogelhäuschen für den Winter

Emmi, Paul, Ali und Sofia saßen in der Schule an ihrem Gruppentisch und warteten gespannt auf den Beginn des Unterrichts. Werken stand auf dem Stundenplan. Das machte ihnen immer ganz besonders viel Spaß. Mal arbeiteten sie mit Draht und Papier, mal mit Ton oder auch mit Holz. Der Fantasie waren dort keine Grenzen gesetzt.
Frau Schröder, die Lehrerin betrat den Werkraum und schob einen alten Einkaufswagen vor sich her, den sie immer dann benutzte, wenn es eine neue Aufgabe mit neuen Materialien gab. Dieses Mal waren es viele Holzbretter, Leisten und Leim.
Neugierig scharten sich die Schüler um den Wagen und überlegten, was daraus wohl entstehen könnte.
Frau Schröder griff nach einem Pappkarton, öffnete ihn und holte ein Vogelhäuschen hervor, dass sie vor sich auf das Pult stellte.
»Das habe ich am Wochenende gebaut und eine sehr genaue Bauanleitung dazu geschrieben, mit der jeder von euch zurecht kommen sollte. Ich weiß, dass ihr alle sehr begabt seid und das Häuschen mit Leichtigkeit bauen werdet.«
Sie verteilte an ihre Schüler Zettel mit Fotografien und Beschreibungen, danach gab sie das Material und das Werkzeug aus.
Sofort machten sich die Kinder an die Arbeit. Die vier Freunde am Gruppentisch arbeiteten wie immer zusammen und unterstützten sich gegenseitig. Während Emmi ein gutes Händchen für das Projekt hatte, fiel es den anderen weniger leicht. Sie hatte nämlich schon Zuhause in der Werkstatt ihrer Mutter oft bei Holzarbeiten zugeschaut und helfen dürfen. Das kam ihr nun zu Gute. Immer wieder blickte sie um sich und stellte schnell fest, wie schwer sich die anderen drei taten. Schließlich schob sie ihr eigenes Häuschen zur Seite und half ihren Freunden. Mal hielt sie zwei Bretter zusammen, mal zeigte sie, wie man mit dem Holzleim und einer Schraubzwinge richtig umging. So konnten nach und nach die Vogelhäuschen fertig gestellt werden. Selbst zum Lackieren blieb noch genug Zeit.
»Ihr habt jetzt noch zehn Minuten, bis der Unterricht vorbei ist. Ich hoffe, dass ihr bis dahin fertig seid. Ich kann heute leider nicht länger bleiben, weil ich noch einen privaten Termin wahrnehmen muss.«
Emmi erschrak. Vor sich sah sie die fertigen Häuschen von Sofia, Ali und Paul, die gerade trockneten. Ihres war aber noch lange nicht fertig. »Verdammt. Ich habe nicht auf die Zeit geachtet. Was mache ich denn jetzt?« Sie wurde hektisch, griff zum Leim und schmierte ihn über das Holz. Verzweifelt drückte sie die einzelnen Bretter aneinander, die aber nicht an ihren Plätzen bleiben wollten.
»Leute, ich brauche eure Hilfe.« Die Freunde packten sofort mit an, versuchten gemeinsam zu retten, was noch zu retten war. Aber es half nichts. Das Häuschen verklebte krumm und schief. Emmi verzweifelte. Tränen rannen an ihrer Wange herunter. »Das ist mir noch nie passiert. Was soll ich denn jetzt machen?«
Frau Schröder sah auf die Uhr. Es war fast so weit. Sie stand auf und ging durch die Reihen, machte mal hier und mal da eine Anmerkung und verteilte Noten.
»Hm.« Sie sah sich Emmis Vogelhaus von allen Seiten an und legte die Stirn in Falten. »Was ist denn bei dir passiert? Schaut aus, als hätte ein Erdbeben stattgefunden. So hast du noch nie ein Werkstück angefertigt. Ich müsste dir dafür eigentlich eine schlechte Zensur geben, das kannst du dir bestimmt denken.«
Frau Schröder dachte weiter nach. »Geht es dir gut, Emmi oder bedrückt dich etwas?«
Emmi wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und zog geräuschvoll die Nase hoch, was ihr sofort richtig peinlich wurde.
»Ich habe nicht auf die Zeit geachtet und bin zu spät fertig geworden.« Dass sie ihren Freunden geholfen hatte, sprach sie nicht aus. Sie wollte verhindern, dass auch die anderen eine schlechte Note riskierten.
»Emmi hat mir die ganze Zeit geholfen.«, erklärte Ali. »Ohne ihre Hilfe hätte ich das bestimmt nicht so gut hinbekommen. Allein war mir das viel zu schwer. Deswegen ist sie dann selbst nicht mehr fertig geworden. Es ist meine Schuld.«
»Ich habe auch ihre Hilfe gebraucht.«, sagte Paul kleinlaut. »Ich habe zwei linke Hände. Hätte ich das Vogelhäuschen allein gebaut, sähe es jetzt wie eine Ruine aus.« Zum Beweis zeigte er seine Hände vor, die komplett mit Holzleim verklebt waren.«
»Wir können das alle nicht so wirklich gut.« Auch Sofia gab zu, es ohne ihre Freundin nicht rechtzeitig geschafft zu haben. »Emmi hat allein mehr Talent als wir drei zusammen.«
Frau Schröder sah die Kinder und deren Vogelhäuschen nach und nach an und nickte schließlich. »Wirklich gute Arbeit Emmi. Aber ihr habt auch ein tolles Teamwork hingelegt, Leute.« Sie drehte sich zu den anderen Schülern um. »Da könnt ihr mal sehen, wie weit man kommt, wenn man nicht alles allein schaffen will, sondern als Gruppe zusammenarbeitet.«
Sie nahm ihr Notizbuch zur Hand notierte sich alles. »Emmi, du bekommst natürlich auch eine gute Note. Wer so hilfsbereit ist und riskiert, für seine Freunde eine schlechtere Zensur zu bekommen, hat natürlich eine gute Note verdient.«
Es klingelte. Der Unterricht war beendet.
»Und nun ab mit euch nach Hause. Wir haben Feierabend.

(c) 2021, Marco Wittler


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