1183. Wie spät ist es?

Wie spät ist es?

Kunibert Kuckuck saß gemütlich in seinem Wohnzimmer auf einer Holzstange, las in der Zeitung die neuesten Nachrichten und trank immer wieder einen Schluck aus seiner Kaffeetasse. Währenddessen warf er immer mal wieder einen Blick aus dem Fenster und auf die Uhr an der Wand. Irgendwann starrte er verwirrt auf die Zeilen vor sich, blickte aber regelrecht durch sie hindurch. Er hatte plötzlich das Gefühl, dass irgendwas nicht richtig war, konnte aber nicht genau sagen, woran es lag.
Plötzlich riss er seine Augen auf, warf die Zeitung fort und sprang zur Uhr.
»Verdammt!«, fluchte er laut. »Die Uhr ist stehen geblieben. Ich habe heute Morgen vergessen, sie aufzuziehen. Hoffentlich bin ich noch nicht zu spät dran? Ich könnte dann meinen Job verlieren. Wenn ich doch nur wüsste, wie spät es jetzt ist.«
Kunibert zog sich schnell ein Federkleid über, öffnete das Fenster und flog los. Er musste so schnell wie möglich irgendwo eine Uhr finden.
Das erste Ziel, das er mit kräftigen Flügelschlägen ansteuerte, war der hohe Kirchturm im Zentrum der Stadt. Dort, so war sich der Kuckuck sicher, hing eine sehr große Uhr, die man schon von Weitem sehen konnte.
»Moment mal.«, wunderte sich Kunibert, als er schon fast das Zifferblatt berühren konnte. Wo sind denn die Zeiger geblieben?« Er flog einmal im Kreis um den Turm herum, bis er ein Schild entdeckte, auf dem das Wort Baustelle in großen Buchstaben geschrieben war. Er musste sich also eine andere Uhr suchen.
Er flog zur Bank, am Rathaus vorbei und machte einen Abstecher zur Apotheke. Nirgendwo gab es eine Uhr. Das war zum Federn ausreißen.
»Was soll ich denn jetzt machen? Mein Job steht auf dem Spiel. Ich muss endlich die genaue Zeit wissen.«
Kunibert hörte ein lautes Tuten, das nicht sehr weit entfernt sein konnte. Es stammte von einer Lokomotive.
»Ja genau. Das ist es. Am Bahnhof hängt eine Uhr.« Kunibert flog, so schnell ihn seine kleinen Flügel tragen konnten. Er raste um ein paar Ecken und fand endlich, wonach er so lange gesucht hatte. Über dem Gleis hing eine große Uhr, deren Zeiger auf fünf Minuten vor sechs am Abend standen.
»Glück gehabt. Gerade noch einmal rechtzeitig.« Schnell machte sich der Kuckuck auf den Rückweg. In letzter Sekunde und mit letzter Kraft stürzte er durch das Fenster in seine Wohnung, hielt sich mit Mühe und Not auf seiner Holzstange und drückte auf einen großen, roten Knopf. Ein Motor sprang an und transportierte den Vogel durch die gegenüber liegende Wand, die sich knarzend öffnete. Unter keuchenden Atemzügen, bekam er noch ein letztes Wort aus seiner Kehle, dass er fünf Mal wiederholte: Kuckuck.

(c) 2022, Marco Wittler


Image by Vizetelly from Pixabay

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