119. Plitsch Platsch, ein Regentropfen oder „Papa, warum fallen die Regentropfen?“ (Papa erklärt die Welt 17)

Plitsch Platsch, ein Regentropfen
oder ›Papa, warum fallen die Regentropfen?‹

Sofie spielte im Garten in ihrem Sandkasten und baute eine riesige Burg. Sie bemerkte gar nicht, dass nach und nach die Sonne verschwand und dunkle Wolken über den Himmel zogen. Weit in der Ferne grollte es leise und hin und wieder war ein kurzer, aber sehr heller Lichterschein zu sehen. Erst als die ersten Regentropfen zum Boden fielen und kleine Löcher in die Sandburg gruben, bemerkte Sofie, dass es langsam Zeit wurde, um ins Haus zu gehen. Doch noch ehe sie durch die Tür verschwunden war, gab es einen Wolkenbruch. Wie aus großen Kübeln und Eimern goss es plötzlich vom Himmel herab.
Während Sofie im Flur die nassen Schuhe und Söckchen auszog, kam Papa mit einem großen Handtuch herbei geeilt, schlang seine kleine Tochter darin ein und rubbelte sie trocken.
»Da hat es dich ja voll erwischt. Du hättest öfter nach dem Wetter schauen müssen.«, sagte er vorwurfsvoll.
Sofie sah ihn nur unverständlich an und antwortete ihm in ihrer typischen Art.
»Aber Papa. Du bist doch der Erwachsene von uns beiden. Du hättest öfters mal nach draußen nach mir schauen müssen, anstatt dich hinter deiner Zeitung und deiner Tasse Kaffee zu verstecken. Dann wäre das alles nicht passiert.«
Papa wusste nicht, was dazu sagen sollte, so überrascht war er.
»Vielleicht hast du ja Recht. Aber nun ab mit dir in die Badewanne, damit du dich nicht erkältest.«

Eine halbe Stunde später stand Sofie frisch gebadet und in trockenen Sachen im Wohnzimmer. Es regnete noch immer und der Sandkasten wurde matschiger und matschiger.
»Also heute kann ich da drin nicht mehr spielen.«
Papa sah von seiner Zeitung auf und hielt seiner Tochter den Wetterbericht vor die Nase.
»Draußen spielen kannst du eh für heute vergessen. Es soll den Rest des Tages nicht mehr aufhören.«
Sofie war sauer. Sie wollte sich vom Wetter nicht sagen lassen, wo sie spielen konnte und wo nicht.
»Das ist gemein und unfair. Mich hat mal wieder keiner gefragt. Papa, warum fallen eigentlich die Regentropfen?«
Papa hielt inne, kratzte sich am Kinn und dachte nach.
»Das ist eine gute Frage. Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die ich erst kürzlich gehört habe. Sie handelt zufällig von einem Regentropfen. Und die werde ich dir jetzt erzählen.«
Sofie strahlte über das ganze Gesicht.
»Oh ja, eine Geschichte.«
»Und wie fängt eine Geschichte immer an?«, fragte Papa.
Sofie lachte schon voller Vorfreude und antwortete: »Ich weiß es. Sie beginnt mit den Worten ›Es war einmal‹.«
»Ja, das stimmt. Absolut richtig. Also, es war einmal …«

Es war einmal eine kleine weiße Schäfchenwolke. Sie flog hin und her und durchkreuzte für ihr Leben gern den Himmel. An manchen Tagen war sie allein unterwegs und dann wieder mit ihren Freunden zusammen. Wer aber nun denkt, dass eine Wolke einfach nur eine Wolke ist, dann hat er sich getäuscht. Man muss nur genau hinschauen, dann sieht man ganz genau, woraus eine Wolke besteht. Mit einer Lupe kann man unzählige kleine Wassertröpfchen erkennen.
Die kleinen Tropfen halten sich an den Händen und tanzen wild im Kreis umher. Sie feiern ständig ein großes Fest und könnten sich nichts anderes vorstellen, als in ihrer großen Gemeinschaft zu leben. Und so treibt es sich vom einen Ende des Himmels zum anderen. Sie fliegen von Norden nach Süden und von Osten nach Westen. Wenn sie überall einmal gewesen sind, beginnen sie mit ihrer Reise wieder von vorn und tanzen munter weiter.
Einer dieser Tropfen war PlitschPlatsch. Man konnte ihn von seinen Freunden nicht unterscheiden, denn sie sahen alle gleich aus und tanzten im Kreis umher. Er freute sich, dass das Leben so schön war und es sich niemals ändern würde. So dachte er jedenfalls. Aber da hatte er auch noch nichts von der großen schwarzen Gewitterwolke gehört.
Die Gewitterwolke flog ebenfalls über den Himmel. Auch in ihr lebten viele Wassertropfen. Allerdings lebte in ihrer Mitte noch jemand anderes. Ein heller Blitz wartete nur darauf, im Himmel für ein großes Durcheinander zu sorgen. Sobald er auf eine weiße Wolke traf, fuhr er aus seinem Versteck heraus und erschreckte alle kleinen Tropfen, die er fand.
PlitschPlatsch ahnte nichts davon. Als er sich eines Tages umsah und eine schwarze Wolke entdeckte, freute er sich darüber, neue Freunde kennenlernen zu können.
»Vielleicht leben dort drüben ganz viele fröhliche Regentropfen von denen wir neue Spiele, Tänze und Lieder lernen können.«, sagte er den anderen.
Immer näher kam das dunkle Ungetüm. Als es nur nur einen Tropfensprung weit entfernt war, sauste plötzlich etwas Helles daraus hervor. Es war der Blitz. Wie ein wildes Tier jagte er um die kleine weiße Wolke herum. Lauten Donnerknall lies er ertönen.
Die vielen kleinen Regentropfen erschraken und fürchteten um ihr Leben. In ihrer Angst lösten sie sich aus ihren Kreisen, um vor dem unerwarteten Licht zu flüchten. Doch da bemerkten sie ihren Fehler. Als sie ihre Hände voneinander lösten, fielen sie zu Boden.
PlitschPlatsch war einer von ihnen. Sein ganzes Leben hatte er in der kleinen Wolke verbracht. Er war dort geboren worden und hatte immer nur getanzt, gesungen und gelacht. Immer hatte er die Hände der anderen gehalten. Doch nun war er allein und sauste auf die Erde unter seinen Füßen zu.
Seine Angst wurde noch größer. Er wusste nicht, wie ihm geschah und was nun passieren würde. Der Gedanke an den Aufschlag war erschreckend, aber von nun an allein zu sein, war noch schlimmer. PlitschPlatsch schrie. Um ihn herum zuckte noch immer der Blitz und donnerte wie wild.
Plötzlich prallte er auf etwas weichem auf. Es war grün und gab nach. Es war das Blatt eines Baumes. PlitschPlatsch versuchte, sich fest zu halten, aber seine kleinen Händchen waren nicht stark genug. Er rutschte ab und fiel weiter, bis er schließlich am Boden ankam.
Dort saß er nun einsam und allein. Der Himmel und seine Freunde waren unendlich weit fort. Selbst der Blitz war von unten nicht mehr zu sehen.
»Ich werde für immer allein sein.«, rief er in die Stille des Tages hinein.
Da hatte er sich allerdings getäuscht. Mit einem Mal ertönte ein lautes, prasselndes Geräusch. Nur Sekunden später fielen weitere Wassertropfen auf den Boden und bildeten sehr schnell eine große Pfütze.
PlitschPlatsch war überglücklich. Seine Freunde waren auch herab gefallen und gesellten sich nun zu ihm. Von nun an würden sie gemeinsam ihr Leben am Boden verbringen, denn auch dort konnte man lachen, tanzen und singen. Und ein Blitz würde sich ganz bestimmt nicht hier herab wagen.

Sofie sah wieder nach draußen und betrachtete die Pfützen, die sich in der Wiese des Gartens gesammelt hatten.
»Und das sind jetzt die vielen Regentropfen, die aus den Wolken gefallen sind?«
Papa nickte.
Sofie verzog das Gesicht zu einem Grinsen.
»Ich glaube dir kein einziges Wort. Das hast du dir doch bloß ausgedacht.«
Papa schüttelte mit dem Kopf und beschwor seine Ehrlichkeit. Aber Sofie wusste es diesmal besser.
»Und was ist mit der weinenden Prinzessin aus dem Wolkenschloss? Ich dachte wegen ihr regnet es immer wieder.«
Da hatte Papa wohl eine seiner Geschichten wieder vergessen.

 (c) 2008, Marco Wittler

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