1325. Flaschenpostbote Knut und die scharfen Zähne

Flaschenpostbote Knut und die scharfen Zähne

Flaschenpostbote Knut blickte auf den Absender der letzten Flasche, die sich in seiner Ledertasche befand. An diesem Ort war der alte Meermann in seiner langen Zeit seines Berufs noch nie gewesen. Aus diesem Grund musste er sich auch mit einer Seekarte behelfen, die er vor einer Ewigkeit bei einem Trinkgelage einem Pirat abgeknöpft hatte. Das Ziel des letzten Tour des Tages lag hinter den Korallenriffen, in denen es von gefährlichen Schurken nur so wimmeln sollte. Aber das waren natürlich nur Gerüchte. Ob es tatsächlich einen wahren Kern gab, konnte kein Meermensch sagen.
Knut rückte Seestern Enno auf seiner Brust zurecht und schwamm los. Kreuz und quer ging es durch das Riff. Mal mussten sie nach links, mal nach rechts abbiegen. Immer wieder blieb Knut mit seiner Uniform an einer Koralle hängen und hatte sehr schnell den ersten Riss im Stoff zu beklagen.
»Ach, Enno. Ich glaube, ich werde langsam zu alt für diesen Job. Ich sollte mich zur Ruhe setzten.«
Enno nickte und brummte seinem großen Kollegen ein tiefes »Hallo!« entgegen.
Das Riff und die Korallen wichen nach ein paar Kilometern zurück und gaben den Blick auf eine große, sandige Ebene frei.
»Da vorne muss es sein.« Knut zeigte auf ein altes Schiffswrack, das vor langer Zeit am Riff zerschellt sein musste. »Wer weiß, was damals aus der Mannschaft geworden ist.«, dahte Knut laut nach. »Haben sie das Unglück überlebt oder ist ihnen das Meer zum Grab geworden? Wir werden es wohl nie erfahren.«
Sie schwammen zum Wrack, versuchten einen Blick in das Innere zu werfen. »Hallo? Ist da jemand?« Es gab keine Antwort. »Hier ist die Flaschenpost. Ich habe eine Sendung für sie.« Nichts. Knut ärgerte sich bereits. Waren sie etwas völlig umsonst diesen langen Weg hier heraus gekommen? Was für eine Zeitverschwendung.
Plötzlich blitzte etwas im dunklen Wrack auf. Waren das etwa die großen, scharfen Zähne eines weißen Hais? War die hierher addressierte Flaschenpost nur ein Teil eines fiesen Plans gewesen?
»Seid ihr echte Flaschenpostboten oder seid ihr gefährlich?«, fragte ein kleines, zitterndes, dünnes Stimmchen.
Wie? Was? Knut war verwirrt. Da stimmte etwas nicht. Ein großer, verfressener Hai würde nicht mit einem Fistelstimmchen sprechen, oder? Er warf einen schnellen Blick auf seine Brust. Ennos Stimme war für einen kleinen Seestern auch ungewöhnlich tief. »Wir kommen in friedlicher Absicht. Wir werden niemanden angreifen und fressen. Fest versprochen.«
Um sein Versprechen zu unterstreichen, holte Knut die Flaschenpost aus seiner Ledertasche, legte sie langsam auf den sandigen Boden und schwamm ein paar Meter rückwärts.
Aus dem Wrack kam ein Schwarm kleiner, silberner Fische hervor geschwommen, die der alte Meermann für Haifischzähne gehalten hatte. Er atmete erleichtert auf. Er würde den heutigen Tag nicht als Fischfutter enden. Stattdessen winkte er kurz und machte sich mit Enno auf den Heimweg.
»Das ist der Grund, warum ich meinen Job so liebe. Man lernt die verrücktesten Flaschenpostempfänger kennen.«

(c) 2022, Marco Wittler

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