Die Suche nach dem goldenen Fluss
Florian kam in den Garten. Dort warteten bereits seine Freunde.
»Was ist denn nun? Hast du den Ball gefunden? Wir wollen doch Fußball spielen.«
Florian schüttelte den Kopf.
»Auf dem Dachboden steht so viel Gerümpel, dass man fast gar nicht dort durch kommt.«
Michi verdrehte die Augen, obwohl er den Ball selber durch die Dachluke geschossen hatte.
»Du hast bestimmt nicht richtig nachgeschaut.«, beschwerte er sich.
»Wenn etwas gründlich getan werden muss, sollte man es immer selber machen. Das sagt mein Vater auch immer. Jetzt gehe ich mal suchen.«
Michi betrat das Haus und stolzierte in gespielter Überlegenheit die Treppe nach oben. Die anderen fünf Jungs folgten ihm.
»Ich habe gehört, dass es auf Dachböden spuken soll.«, flüsterte Christian.
»Mach dir mal nicht ins Hemd.«, herrschte Michi ihn an.
»Es gibt keine Geister.«
»Ich habe aber schon mal welche gesehen – glaube ich.«, sagte Tobias.
Michi wollte davon nichts hören. Er hatte nur seinen Ball im Kopf. Er öffnete die Dachbodentür und trat ein.
»Ganz schön dunkel.«, murmelte er, während er nach dem Lichtschalter suchte.
Dann wurde es hell. Max zuckte zusammen und machte einen Schritt rückwärts.
»Da war was. Habt ihr das gesehen? Ein Schatten ist hinter der Kiste dort verschwunden.«
Michi verdrehte ein weiteres Mal die Augen.
»Und was ist mit dir Daniel? Machst du dir auch gleich in die Hose?«
Daniel zuckte nur mit den Schultern.
»Ist mir egal. Fangen wir jetzt an zu suchen?«
Die sechs Jungs verteilten sich nach und nach. Sie suchten in jeder Ecke, hinter jeder Kiste und unter jedem Stapel Kram, den sie erreichen konnten. Aber noch immer tauchte der Ball nicht auf.
»Was ist denn das?«
Florian hob ein altes Blatt Papier hoch und hielt es ins Licht. Es war stark vergilbt und an den Rändern leicht verbrannt.
»Das sieht schon ziemlich alt aus. Wer weiß, wie lange das schon hier liegt.«
Schon drängte sich Michi dazwischen.
»Was ist das denn? Zeig mal her.«
Er warf einen Blick auf den Fund.
»Das ist doch nur eine billige Kritzelei. Vielleicht hat das ein Kind vor vielen Jahren im Kindergarten gemalt. Das ist ja so langweilig.«
Aber Florian war anderer Meinung.
»Das sieht aus wie eine Karte. Vielleicht ist da sogar ein Schatz eingezeichnet, den wir suchen und finden können.«
Michi winkte ab und suchte wieder nach seinem Ball.
Die anderen Jungs drängten sich nun alle um die Karte. Lediglich Daniel stand etwas gelangweilt abseits.
»Was meinst du Daniel? Ist das eine Schatzkarte?«
Daniel sah herüber und drehte kurz darauf seinen Kopf wieder fort.
»Kann sein. Weiß ich nicht. Ist mir auch egal.«
Aber Florian war sich sehr sicher, etwas ganz Besonderes gefunden zu haben. Mit den Fingern fuhr er über das Papier und versuchte etwas zu entdecken, dass er kannte.
»Das sieht aus wie unser Haus.«
Er fuhr weiter.
»Hier ist der Waldrand und das ist unser Bach. Aber diese Stelle kenne ich nicht.«
Er wischte den Staub mit der Hand beiseite und versuchte die verblasste Tinte zu lesen.
»Der goldene Fluss.«, las er vor.
»Mensch, Leute, ein goldener Fluss. Da sollten wir unbedingt hin. Vielleicht werden wir dann alle reich.«
Michi wurde nun auch neugierig und wollte einen Blick auf die Karte werfen. Das Wort Gold hatte sein Interesse geweckt.
»Worauf warten wie dann noch? Machen wir uns schnell auf den Weg, bevor uns jemand zuvor kommt und das ganze Gold für sich behält.«
Die sechs Jungs verließen das Haus und machten sich auf den Weg zum Wald. Es ging über Stock und Stein, Wurzeln und Baumstümpfe. Die Zeichnung auf der Karte hielt sich grundsätzlich fernab der festen Wege. Als die Jungs auf einer Lichtung ankamen, war plötzlich Schluss.
»Und nun? Ich habe euch doch gleich gesagt, dass die Karte nicht echt ist. Aber auf mich wollte ja keiner hören.«
Michi war sauer, schnappte sich die Karte und zerriss sie in viele kleine Stücke.
Florian war entsetzt. Er fiel sofort auf die Knie, sammelte das Papier auf und versuchte, die einzelnen Stücke zu sortieren. Dabei fiel ihm dann etwas auf, dass er vorher nicht gesehen hatte.
»Löse das Rätsel und finde den Rest des Weges.«, las er weiter vor.
»Hier muss irgendwo eine weitere Karte versteckt sein.«
Sofort schwärmten die Jungs aus. Sie sahen in allen Baumstümpfen und Löchern nach. Schließlich fand Max einen alten Briefumschlag in einem verlassenen Spechtloch.
»Ich hab hier was. Kommt schnell alle her.«
Michi war als erster zur Stelle. Er nahm Max den Brief aus der Hand, öffnete den Umschlag und las vor was dort stand:
Steht am Himmel die Sonne zur Kaffeezeit
Dann folge ihr nach und sei stehts bereit
Eines gibt es, worum ich bitte
Mache nun in richtiger Richtung einhundert Schritte
Alsbald wirst du finden den Fluss aus Gold
Hoffentlich ist dir dein Glück auch hold
Michi warf Florian das Rätsel zu.
»Ist doch alles nur Blödsinn. Ich hab es doch gleich gewusst. Dich hat jemand auf den Arm genommen und du bist natürlich auch darauf herein gefallen.«
Florian besah sich noch einmal die Gedichtzeilen. Er blickte kurz auf seine Uhr und dann wieder auf den Text.
»Das ist es. Wir müssen der Sonne nachlaufen, wenn es Kaffeezeit ist. Auf meiner Uhr ist es kurz nach drei Uhr Nachmittags. Das passt perfekt.«
Er ging los und zählte jeden seiner Schritte.
»Eins, zwei, drei, …«
Nach ein paar Minuten waren sie fast am Ziel.
»…, achtundneunzig, neunundneunzig, einhundert. Wir sind da.«
Die sechs Jungs waren nun tiefer im Wald, als jemals zuvor. Florian sah sich um und entschied, einen Blick durch die Hecke vor ihm zu werfen.
»Da ist tatsächlich ein Fluss.«
Nun hielt es die Jungs nicht mehr. Jeder wollte der erste sein und den größten Goldklumpen für sich beanspruchen. Sie drückten einen Teil der Hecke nieder und kämpften sich durch ein paar Dornen zur anderen Seite vor. Sie stapften in das flache Wasser und begannen zu suchen. Sie hoben Steine beseite oder gruben Löcher in den matschigen Boden. Aber es kam kein Gold zum Vorschein.
»Die Karte hat gelogen. Hier gibt es gar keinen Schatz.«, beschwerte sich Michi.
»Und das ist alles Florians Schuld.«
Schon wollte er sich auf seinen Freund stürzen, doch dieser bekam plötzlich einen goldigen Glanz in seinen Augen.
»Seht doch mal, Leute. Ich glaube wir haben den goldenen Fluss doch noch gefunden.«
Er lenkte ihre Blicke auf die andere Seite des Flusses. Dort entdeckten sie eine große Wiese, auf der unzählige Birnbäume standen. Und nun, mitten im Herbst leuchteten ihre Früchte in einer satten goldenen Farbe.
»Es war nie die Rede von Gold im Fluss, sondern von den goldenen Birnen, die an seinen Ufern wachsen.«
Die Jungs durchschritten das Wasser und sahen sich die vielen Bäume an. Sie bemerkten gar nicht, dass sich im gleichen Augenblick ein Bauer näherte.
»Habt ihr Lust auf eine Birne, Jungs? Bedient euch ruhig. Es sind genug für alle da.«
Ein lauter Jubel ging durch die sechs Jungs, der aber schon kurz darauf verstummte, da jeder einen Bissen der süßen Früchte im Mund hatte.
Michi schluckte ein Stück Birne herunter, bevor er Florian ansprach.
»Du bist in Ordnung. Ich habe dir die ganze Zeit nicht geglaubt, aber den goldenen Fluss hast du trotzdem gefunden. Tut mir leid, dass ich zu unfreundlich zu dir war.«
Florian winkte ab.
»Macht doch nichts. Dafür habe ich deinen Ball nicht gefunden.«
Alle lachten, während sie sich neue Birnen von den Bäumen pflückten.
(c) 2008, Marco Wittler
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