Geisterjäger
Es war spät geworden. Die Sonne war schon lang hinter dem Horizont verschwunden, während der Vollmond langsam seine Bahn durch das unendliche Sternenmeer zog. Während in der nahen Stadt die Menschen langsam in ihre Betten krochen, waren die Grillen im Wald noch sehr aktiv und sangen gemeinsam leise Lieder.
Auf der großen Lichtung, deren genauen Ort kaum jemand kannte, wurde es zur Mitternacht sehr lebendig, wenn man bei Geistern überhaupt von Leben sprechen kann.
Wie kleine Bettlaken sahen sie aus, sausten zwischen den Bäumen hin und her und erschreckten die kleinen, unschuldigen Büsche, wenn sie nicht genau hinsahen.
Einer dieser Geister verhielt sich aber anders, als die anderen. Es war ein kleines Geistermädchen mit rosa Schleife auf dem Kopf und, was besonders ungewöhnlich war, zwei Füßen die unter ihrem Laken hervor lugten, die in dicken, schwarzen Schuhen steckten.
»Ja, die Füße habe, weil ich es bei meiner Geburt zu eilig hatte und es nicht abwarten konnte.« Mit Engelsgeduld erklärte sie einem neugierigen Igel ihr ungewöhnliches Aussehen. »Deswegen kann ich auch nicht fliegen, wie es die anderen Geister tun. Aber dafür habe ich eine Fähigkeit, wie kein anderer meiner Art. Ich kann nach einem kräftigen Regen in die Pfützen springen. Das macht so wahnsinnig viel Spaß.«
Noch während Roselotte Brombeerstrauch von ihrer liebsten Beschäftigung sprach, wurde es still im Wald. Die Grillen stellten ihren Gesang ein. Nichts war mehr zu hören, als das leise Säuseln des Windes.
War wirklich gar nichts mehr zu hören? Die Geister unterbrachen ihr unbeschwertes Spiel und sahen sich besorgt um. Plötzlich knackte es leise im Unterholz. Irgendwer hatte sich unbemerkt der Lichtung genähert. »Da sind sie! Fangt sie ein!«
Ein paar halbstarke Jungs sprangen hinter einer großen Tanne hervor. In ihren Händen hielten sie Fangnetze und blickdichte Jutesäcke. »Jetzt können wir den anderen endlich beweisen, dass wir Recht haben und Geister wirklich existieren.«
Panisch stoben die Geister auseinander. Wer konnte, flog in die wenigen Verstecke, bevor er deren Standort verraten konnte. Anderen suchten in den hohen Baumkronen Schutz.
»Du musst dir auch ein Versteck suchen.« Der kleine Igel sah besorgt zu Roselotte auf. »Auf mich musst du keine Rücksicht nehmen. Igel sind für sie völlig uninteressant.«
Roselotte schüttelte so kräftig den Kopf, dass ihre Schleife beinahe verloren gegangen wäre. »Ich kann doch nicht einfach zuschauen, wie sie einen von uns einfangen und den Menschen vorführen. Es weiß doch niemand, dass es uns gibt.«
Einer der größeren Geister näherte sich. »Was auch immer du vorhast, Roselotte Brombeerstrauch, schlag es dir aus dem Kopf. Es ist viel zu gefährlich. Versteck dich irgendwo. Na los.«
Die Augen des kleinen Geistermädchens verdunkelten sich. »Mein Name ist Lotti und ich bin zu allem bereit.«
Sie schob den kleinen Igel vorsichtig zur Seite und ging den Geisterjägern entgegen. »Kommt her, wenn ihr euch traut. Ich mache euch mit links fertig.« Lotti schob die Ärmel hoch und ballte die kleinen Fäuste.
»Da ist einer. Da ist ein Geist. Schnappt ihn.« Die Jungs stürmten Lotti entgegen, stülpten ihr einen Sack über und knoteten ihn zu.
»Jetzt können wir endlich beweisen, dass wir keine Spinner sind. Geister gibt es wirklich.« Schon verschwanden die Jungs in der Dunkelheit und liefen mit ihrer Beute zur Stadt.
»Aber … was machen wir denn jetzt?« Dem Igel blieb die Luft weg, so schockiert war er. »Wir können Lotti doch nicht allein lassen. Wir müssen sie retten.«
»Nein, müssen wir nicht. Mir geht es prächtig.«
Der Igel sah auf. Lotti stand grinsend neben ihm. »Schon vergessen? Ich bin ein Geist. Ich glaube, ich habe gerade gelernt, wie man durch einen Sack hindurch kommt. Ich habe eine Fähigkeit an mir entdeckt.«
Der Igel atmete erleichtert auf. »Aber was steckt dann in dem Sack?«
Lotti lachte laut. »Eine große Menge matschige Marshmallows, die vom letzten Lagerfeuer übrig geblieben sind. Die Leute in der Stadt werden die Geisterjäger so richtig auslachen.«
(c) 2022, Marco Wittler
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