1444. Wann kommt der erste Schnee?

Wann kommt der erste Schnee?

Anni saß traurig am Fenster und blickte ununterbrochen zum Himmel hinauf. Seit Wochen war dort nichts anderes zu sehen als das Grau der Wolken. »Wenn da wenigstens Schnee drin wäre. Aber nein, es regnet ohne Pause.«
Für einen richtigen Winter war es in diesem Jahr nicht ein einziges Mal kalt genug gewesen. Das Thermometer zeigte rund um die Uhr mehr als zehn Grad Celsius an.
Anni war es satt, auf Winterwetter zu warten. Es war der Zeitpunkt gekommen, an dem sie selbst die Initiative ergreifen musste. »Ich schreibe jetzt einen Wunschzettel an den Weihnachtsmann und bitte ihn um Schnee. Ich will ja auch gar nicht viel. Es soll einfach nur zum Schlittenfahren reichen.«
Sie nahm Zettel und Stift zur Hand und begann zu schreiben.

Lieber Weihnachtsmann.
In diesem Jahr habe ich keine Lust auf Spielzeug, ein neues Malset oder irgendwas anderes. Ich möchte eigentlich nur eine Sache, die nicht nur mir, sondern vielen anderen Kindern auch gefallen wird. Ich wünsche mir ein klein wenig Schnee. Es muss auch gar nicht viel sein. Ich möchte nur mit meinem Schlitten einen kleinen Hügel hinab fahren können.«

Anni faltete aus dem Wunschzettel einen Papierflieger und warf ihn hinaus in die graue Welt, wo er schnell im Regendunst verschwand. Anni seufzte leise. Ob ihr Wunsch nicht doch etwas zu groß gewesen war? Konnte der Weihnachtsmann überhaupt das Wetter beeinflussen? Sie war sich nicht sicher. Weil ihr lieber zu, Schmollen, als zum Hoffen war, setzte sie sich in ihren großen Lesesessel und verkroch sich unter ihrer warmen Kuscheldecke.
Wenige Minuten später klopfte es unerwartet am Fenster. Anni schrak hoch und blickte über ihre Schulter. Da stand ein Mann draußen und winkte ihr zu. Er trug einen roten Mantel, eine rote Mütze und einen langen, weißen Bart über seinem dicken Bauch. War er es tatsächlich oder hatte sich ein Bösewicht nur sehr gut verkleidet. Anni zögerte und sah sich misstrauisch um. Der Mann vor ihr schien das zu bemerken und zeigte mit seiner behandschuhten Hand zur Seite. Dort stand ein riesig großer Schlitten, vor den acht Rentiere gespannt waren.
»Der Weihnachtsmann ist gekommen.« Anni öffnete das Fenster. »Hallo Weihnachtsmann. Hast du meinen Wunschzettel erhalten? Kannst du für Winterwetter sorgen?«
Der Weihnachtsmann lachte und nickte. »Selbstverständlich kann ich das. Ich bin der Weihnachtsmann und ich erfülle Wünsche.«
Er zeigte zum Himmel hinauf. Der Regen ließ nach und hörte schließlich ganz auf zu fallen. Stattdessen schwebte eine einzelne Schneeflocke herab und blieb vor Annis Nase in der Luft hängen.
»Wie?« Anni wollte ihren Augen nicht glauben. »Nur eine einzige Schneeflocke? Wie soll ich denn darauf mit den Schlitten fahren? Das geht doch gar nicht.«
Der Weihnachtsmann lachte. Und ob das geht. Pass mal auf. Ich werde es dir zeigen.«
Er kramte in den Tiefen seiner Manteltasche und holte eine große Lupe heraus. Diese hielt er vor die Schneeflocke, dass Anni hohe, schneebedeckte Hügel erkennen konnte.
»Spring auf meinen Schlitten, Anni. Wir beiden werden diese Hügel gemeinsam befahren.«
Während Anni und der Weihnachtsmann auf dem Bock des Schlittens Platz nahmen, zogen die Rentiere den Schlitten auf die Lupe zu und drangen in sie ein. Von einem Augenblick zum anderen standen sie auf dem Gipfel eines Hügels, dessen Tal irgendwo im Nebel zu liegen schien.
Der Weihnachtsmann löste seine Zugtiere, stampfte mit den schweren Stiefeln einmal auf und gab damit dem Schlitten den entscheidenden Ruck. »Ab geht die wilde Fahrt.« Schon sausten sie in die Tiefe, dass Anni nur so jubelte. Der Weihnachtswinterzauber war gerettet, Annis Laune ebenfalls.

(c) 2022, Marco Wittler

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