1520. Das große braune Monster

Das große braune Monster

Es freut mich, dass zu mir gefunden hast. Ich habe schon auf dich gewartet. Nimm doch bitte Platz, mach es dir gemütlich und genieß eine große Tasse duftenden Kakao.
Ich möchte dir heute eine Geschichte erzählen. Sie handelt vom großen Zauberwald. Vielleicht hast du, wenn du ganz viel Glück hattest, schon einmal von ihm gehört. Es ist nicht schlimm, wenn das nicht der Fall ist. Die meisten Menschen kennen ihn nicht, denn er befindet sich weit von uns entfernt an einem Ort, der gut vor unseren Augen versteckt liegt.
Im Zauberwelt leben ganz viele unterschiedliche Wesen und Kreaturen. Manche von ihnen sind so klein, dass man sie ständig übersieht. Das macht die Kleinsten natürlich sehr traurig. Andere wiederum sind groß wie ein Baum und bringen mit jedem Schritt die Erde zum beben. Natürlich gibt es dazwischen ganz viele Wesen in verschiedensten Formen und Größen.
Meine Geschichte handelt aber von kleinen, flauschigen Monstern, die es in allen Farben des Regenbogens gibt. Oh, schau, da kommt gerade eins von ihnen. Es hat ein weißes Kuschelfell und übergroße Augen mitten im Gesicht.
»Gibt es auch rote Monster?«, fragt das kleine weiße Monster.
Ich räuspere mich und beuge mich zu ihm herab, damit ich ihm etwas ins Ohr flüstern kann. »Natürlich gibt es rote Monster. Es gibt sie auch in rosa, in blau, türkis, schwarz, grün, orange, lila, und natürlich gelb. Aber das ist kein Teil meiner Geschichte, die ich gerade zu erzählen versuche. Und wie das bei Geschichten so ist, wird sie vom Erzähler erzählt. Deswegen heißt er so. Die Figuren sprechen normalerweise nicht mit dem Zuhörer. Es wäre also gut, wenn das auch so bleiben würde.
Dieser Meinung bin ich allerdings allein, denn das weiße Monsterchen stemmt seine Hände in die Seiten und blickt mich sauer an. »Ich möchte aber auch meinen Beitrag leisten. Ich habe ganz viel zu erzählen. Und dann habe ich auch ganz viele Fragen. Von Erzählern sagt man, dass sie allwissend sind. Also: waren das schon alle Farben oder gibt es auch ein Monster, das wie ein Regenbogen aussieht?«
Ich überlege kurz, denke über die vielen Geschichten nach, die ich über den Zauberwald gesammelt, aufgeschrieben und erzählt habe. Ich schüttelte den Kopf. Nein. Ein regenbogenfarbenes Monster ist mir noch nie begegnet.
»Und was ist mit einem braunen Monster?«, fragt es mich weiter. »Du hast Braun nicht erwähnt. Soll es das etwa nicht geben?«
Eigentlich will ich mit nein antworten, möchte das kleine Monsterchen aber nicht anlügen. Stattdessen entschließe ich mich, es zu warnen. Ich senke meine Stimme und flüstere so leise es mir möglich ist.
Es gibt ein einzelnes großes braunes Monster. Es überragt alle anderen um mehrere Köpfe. Es ist kräftig, stark und sehr gefährlich. Wer sich einmal in seine Fänge begeben hat, kommt nie wieder raus. Es ist sehr, sehr böse und schmiedet jeden Tag neue Pläne, wie es den Zauberwald einnehmen kann, um über ihn allein zu herrschen. Halte dich bitte vom Osten fern, denn dort ist es besonders stark.
Das kleine Monster blickt mich mich ganz großen Augen an. Habe ich ihm etwa zu viel Angst gemacht? Wird es gleich weinen und braucht Trost? Nein. Plötzlich lächelt es.
»Darf ich in deinem großen, gemütlichen Erzählersessel Platz nehmen? Ich kenne nämlich eine Geschichte über das große braune Monster. Ich bin ihm nämlich begegnet.«
Ich erschrecke. Mir wird eiskalt. Doch dann fällt mir etwas auf. Das kleine weiße Monsterchen steht lebendig und unversehrt vor mir. Vielleicht kann es mir etwas berichten, was ich noch nicht gehört oder gelesen habe. Ich stehe also auf, hebe das Monsterchen hoch und setze es in meinen grünen Ohrensessel. Es greift zur Kakaotasse und nimmt einen großen Schluck, bevor es zu erzählen beginnt.
Das kleine weiße Monsterchen hatte sich eines Tages dazu entschlossen, auf eine große Abenteuerreise zu gehen. Es sollte von einer Seite des Zauberwaldes zur anderen gehen. Dabei wollte es dunkle Höhlen erkunden und Lebewesen entdecken, die noch kein anderes Monster je Gesicht bekommen hatte.
Das Monsterchen packte sich jede Menge Proviant in einen Rucksack, hängte sich einen Kompass um den Hals und zog sich stabile Wanderstiefel an die Füße, um keine Blasen unter den Sohlen zu bekommen.
Er marschierte los und folgte dabei immer dem Stand der Sonne. Doch nach ein paar Stunden stellte es fest, dass das keine gute Idee war. Da sich die Sonne scheinbar über den Horizont hinweg bewegte, war das Monsterchen im Kreis gelaufen. »Ich muss öfter auf den Kompass schauen, damit ich die Richtung behalte.« Es klappte seine kleine Navigationshilfe auf und blickte nachdenklich darauf. »In welche Richtung soll ich denn gehen? Ich weiß doch gar nicht, was mich wo erwartet.« Da fiel ihm auf, dass das O von Osten wie ein Kreis aussah. »Ich bin versehentlich im Kreis gelaufen. Das muss ein Zeichen sein. Ich werde also nach Osten gehen.«
Das kleine Monster war mehrere Tage unterwegs, kletterte auf seinem Weg über Berge, durchschritt Täler und drang immer tiefer in den Zauberwald ein. Irgendwann stand es vor einer großen, windschiefen Holzhütte, die bestimmt schon bessere Zeiten gesehen hatte.
»Hallo? Ist jemand Zuhause?«
Vorsichtig trat das Monsterchen auf die Veranda und klopfte gegen die Tür, die im selben Augenblick aufgerissen wurde. Vor ihm türmte sich ein großes, braunes Monster auf, dessen Augen böse herabblickten.
»Was willst du hier? Was störst du mich? Verschwinde bloß wieder von hier. Ich will meine Ruhe.«
Das kleine, weiße Monsterchen erschrak und wich sofort ein paar Schritte zurück. Fast wäre es dabei die wenigen Stufen hinter sich herab gestolpert.
»Ich … ich … wollte nur mal Hallo sagen. Ich bin auf einem Abenteuer und wollte Neues entdecken, Freundschaften schließen. Aber jetzt habe ich nur noch Angst und will fort von hier.«
Es drehte sich herum und wollte davon laufen. Da legte sich eine große Hand sanft auf seine Schulter. »Geh bitte nicht weg. Es tut mir leid. Ich wollte die nicht ängstigen.«
Das Monsterchen drehte sich zurück und blickte nun in ein völlig verändertes Gesicht. Das braune Monster sah nun gar nicht mehr böse aus. Sein Blick war traurig und es hätte feuchte Augen bekommen. Es war kurz davor zu weinen.
»Ich bin hier draußen ganz allein.«, begann es zu erzählen, während es sich krachend auf seinen Po plumpsen ließ.
»Ich bin den Wesen und Monstern des Zauberwaldes viel zu groß. Jeder fürchtet mich, hat Angst vor mir und läuft weg. Deswegen lebe ich so weit abgelegen. Hier habe ich meine Ruhe, hier findet mich niemand, hier kann ich niemanden erschrecken. Aber dafür bin ich auch ganz schrecklich einsam. Dabei hätte ich so gerne Freunde.«
Das braune Monster begann zu weinen. Tränen kullerten seine Wange herab, fielen zu Boden und bildeten dort eine große Pfütze.
Das weiße Monsterchen bekam großes Mitleid. Wie konnte man nur wegen der Größe eines Lebewesens Angst bekommen? Es drückte sich an das braune Monster. Es war so kuschelig weich, wie kein anderes Lebewesen, das es kannte.
»Wollen wir Freunde werden?«, fragte es schüchtern und wurde rot im Gesicht.
Das braune Monster riss die Augen auf. Es schniefte laut, wischte sich die Tränen weg, die wie ein prasselnder Regen auf einen Busch fielen und nickte kräftig mit dem Kopf.
»Juhuu! Ich habe meine allererste Freundschaft.« Es nahm das weiße Monsterchen hoch und drückte es vorsichtig an sich.
In diesem Moment geschah etwas sehr Ungewöhnliches, das es so noch nie zuvor im Zauberwald gegeben hatte. Das große Monster verspürte so viel Glück, so viel Freude in seinem Herzen, dass es sich veränderte. Sein Fell verlor die braune Farbe. Es wurde, wie das kleine Monsterchen, schneeweiß, nur um wenige Augenblicke später in bunten Farben zu erstrahlen.
Das weiße Monsterchen bekam große Augen. »Ich habe schon ganz viele Monster im Zauberwald gesehen und getroffen. Jedes hatte seine eigene Farbe, aber keines von ihnen war ein Regenbogenmonster. Du bist wunderschön.«
Das Regenbogenmonster bekam rote Wangen und sah an sich herab. »Ich sehe eben so aus, wie ich mich fühle.«

(c) 2023, Marco Wittler

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