1519. Glühwürmchenlicht

Glühwürmchenlicht

Die kleine Hexe blickte auf die alte Taschenuhr, die sie vor langer Zeit von ihrer Oma geerbt hatte. Die Zeiger waren mittlerweile krumm und schief, auch das Ziffernblatt war mit den Jahrhunderten gelb geworden. Trotzdem zeigte sie die Zeit immer noch auf die Minute genau an. Zumindest tat sie das, wenn die kleine Hexe nicht vergaß, das Uhrwerk aufzuziehen.
Als wäre eine kleine Spieluhr darin versteckt, hörte man aus dem Gehäuse eine kleine Melodie. Es war nur noch eine Stunde bis Mitternacht, nur noch eine Stunde, bis die Geister aus ihren Verstecken kommen würden.
»Jetzt muss ich aber zusehen, dass ich schnell nach Hause komme. Wenn es bloß nicht so dunkel wäre. Ich hasse es, wenn ich in der Nacht durch den Wald gehen muss.«
Die kleine Hexe machte einen vorsichtigen Schritt nach vorn und zwei zurück. »Ich weiß ganz genau, dass die Geister nur darauf warten, dass ich ihr Reich betrete. Dann kommen sie wieder aus ihren Verstecken, um mir Angst einzujagen. Ich mag ihren Humor überhaupt nicht.«
Sie rief sich noch einmal diese eine Nacht ins Gedächtnis. Auch damals hatte die Hexenversammlung auf dem Blocksberg viel zu lange gedauert. Dutzende schwebende Bettlaken waren im Wald um sie herum getanzt und hatten wilde Buhs gerufen. Das wollte die kleine Hexe auf keinen Fall erneut erleben.
»Es wäre so toll, wenn mich ein paar Glühwürmchen begleiten würden. Sie könnten mir den Weg beleuchten, damit ich die Geister früher sehen und mich dann hinter einem Busch verstecken kann.«
Sie überlegte, dachte nach. Gab es vielleicht einen Hexenspruch, mit dem sie die kleinen Leuchtkäfer rufen konnte?
Sie öffnete ihre schwere Tasche und suchte nach dem dicken Buch, das sie immer bei sich trug. Sie holte es hervor und blätterte durch die Seiten. Nein. Nirgendwo war ein passender Spruch verzeichnet. Es schien in der ganzen langen Zeit der Hexenschwesternschaft keine einzige gegeben zu haben, die Hilfe von Glühwürmchen gebraucht hatte.
»Da muss ich mir wohl selbst etwas ausdenken.«
Die Hexe formte ein paar Wörter in ihren Gedanken, ließ manche weg, ersetzte sie durch andere und änderte immer wieder die Reihenfolge, bis sie einen Spruch gefunden hatte, der funktionieren sollte. Sie sprach ihn laut und kraftvoll aus.
Plötzlich wehte eine Windböe aus dem Wald heraus, umringte die kleine Hexe wie ein kleiner Wirbelsturm und verstummte nach ein paar Augenblicken. Die ersehnten Glühwürmchen tauchten aber nicht auf.
»Ich war noch nie so gut im Erfinden von Zaubersprüchen.« Die kleine Hexe seufzte. »Ich muss wohl doch allein durch den Wald gehen.«
Als sie erneut einen ersten Schritt wagte, bemerkte sie ein grünes Leuchten, dass sie umgab und einige Meter des Weges erhellte. Sofort sah sich die Hexe um. Noch immer waren keine Glühwürmchen zu sehen.
»Was ist das? Wo kommt das Licht her?« Ein paar Mal drehte sie sich im Kreis. Da war niemand, keine Leuchtkäfer, keine Geister. »Das … das Licht strahlt aus mir heraus.«
Das war viel zu verrückt, um es zu glauben. Die kleine Hexe holte schnell einen Spiegel aus ihrer Tasche. Das Licht war tatsächlich da.
»Jetzt brauche ich keine Glühwürmchen mehr. Jetzt kann ich allein durch den Wald marschieren.« Nun setzte sie viel mutiger ihren Weg fort und ließ sich von nichts mehr Angst machen.
Nach wenigen Minuten tauchten dann auch die Geister auf. Schon von Weitem konnte man sie erkennen, weil ihre Laken vom Hexenlicht beschienen wurden. Statt zu erschrecken, näherten sie sich neugierig und waren begeistert.
»Dürfen wir dich vielleicht begleiten?«, fragten sie vorsichtig. »Wir haben nämlich immer Angst in unserem Wald. Nur deswegen erschrecken wir alle Wanderer in der Nacht, damit uns niemand erschrecken kann.«

(c) 2023, Marco Wittler

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