1521. Roselotte Brombeergeist blickt in die Sterne

Roselotte Brombergeist blickt in die Sterne

Auf einer kleinen, unscheinbaren Lichtung, die sich tief im dunklen Wald befand, wogten ein paar Blumen im sanften Wind. Ihre Blüten waren fest verschlossen, denn es war tiefe Nacht.
Kurz vor Beginn der Geisterstunde, schon sich der Vollmond über die Baumwipfel. Ein einzelner Strahl seines fahlen, weißen Lichts, fiel in die Lichtung hinein und streifte einzeln über die Blumen hinweg, die sogleich ihre Blütenkelche öffneten.
Ein kaum wahrnehmbares Gähnen erfüllte diesen magischen Ort. Kleine Ärmchen streckten sich und reckten noch kleine Hände in die Höhe. Kurz darauf schwebten mehrere Dutzend Geister aus ihren Schlafplätzen hervor. Einer von ihnen flog höher als die anderen. »Eins, zwei, drei …« Er begann, seine Freunde zu zählen. »Siebenundneunzig, achtundneunzig, neunundneunzig, … Da fehlt doch jemand.«
Der Geist sah sich um, zählte ein zweites Mal. Er kam immer noch nicht auf einhundert. »Wo ist Roselotte Brombergeist? Hat sie etwa wieder verschlafen?« Er schwebte zu einer ganz bestimmten Blume, die er Nacht für Nacht aufsuchte, klopfte an die Blütenblätter und warf einen Blick hinein.
»Nein, ich schlafe gar nicht mehr.«, antwortete Roselotte Brombeergeist sofort. Ich blicke zum wolkenlosen Himmel hinauf und beobachte die Sterne. Ob sie uns wohl beobachten? Was sie wohl über uns denken?«
Der Oberste Geist schüttelte den Kopf. »Papperlapapp. Für solche Gedanken sind wir nicht gemacht. Außerdem haben wir eine Aufgabe zu erfüllen.« Er zeigte zum Mond hinauf. »Die Geisterstunde hat bereits begonnen. Wir müssen uns auf den Weg in die alte Burgruine machen und spuken. Nur so können wir die Menschen von unserer eigentlichen Heimat ablenken.«
Roselotte Brombeergeist seufzte. Sie setzte sich ihre rosa Schleife auf den Kopf und folgte den anderen durch den Wald und sah ihnen dabei zu, wie sie einer nach dem anderen in einer alten Holztür eines verfallenen Gemäuers verschwanden, wie das Geister nun mal so machten.
»Ist mal wieder typisch. Erst komme ich kaum hinterher, weil ich nicht schweben kann und dann haben sie auch noch vergessen, mir die Tür zu öffnen, weil ich sie nicht durchdringen kann. Ich bin doch zu früh geboren und mir fehlen ein paar Fähigkeiten.«
Roselotte Brombeergeist setzte sich vor den Eingang und lehnte sich zurück. »Dann kann ich wenigstens ganz in Ruhe wieder die Sterne beobachten.« Sie zog ihre schweren Wanderstiefel aus und versank wieder in ihren Gedanken.
Plötzlich löste sich ein Stern vom Himmel und stürzte der Erde mit großem Tempo entgegen. Nur wenige Zentimeter vor dem Boden kam er zum Stehen und grinste das kleine Geistermädchen an. »Natürlich beobachten wir euch in der Nacht. Ihr seid so ganz anders wir. Aber du bist noch sehr viel merkwürdiger als die anderen.«
Roselotte Brombeergeist bekam rote Wangen und erklärte ihrem Besucher, warum sie zwar ein Geist war, aber keine besonderen Fähigkeiten besaß.
Der Stern klebte an ihren Lippen, hörte begeistert zu und schüttelte schließlich den Kopf. »Du magst vielleicht anders sein, als die anderen Geister, aber dafür hast du eine einzigartige Fähigkeit. Du hast mich mit deinen Worten begeistert. Ich kann mir vorstellen, dass ganz wundervolle Geschichten erzählen kannst. Die würde ich mir gern von dir erzählen lassen.«
Geschichten erzählen? Vielleicht sogar Geistergeschichten? An so etwas hatte Roselotte Brombeergeist noch nie gedacht. Aber das klang lustig. »Dann besuch mich von nun an jede Nacht. Wir suchen uns ein gemeinsames Versteck, in dem ich dir von uns erzählen werde.«
Das gefiel dem Stern. Er bedankte und verabschiedete sich, schwebte zum Himmel zurück und nahm wieder seinen angestammten Platz ein.

(c) 2023, Marco Wittler

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*