Roselotte Brombeergeist spielt Verstecken
Die Nacht war über dem Wald hereingebrochen. Die Sterne funkelten am Himmel und die meisten Tiere hatten längst den Weg in ihre Träume gefunden.
Kurz vor Mitternacht schob sich der Vollmond über die Bauwipfel. Ein erster Lichtstrahl suchte sich den Weg in eine kleine Lichtung, streifte mehrere weiße Blumen, die kurz darauf ihre Blüten öffneten. Nur wenige Sekunden später zog sich der Himmel zu und es begann zu schneien.
Lautes Gähnen war zu hören, bevor auf jeder Blume ein Geist emporstieg. Nur in einer einzigen Blüte tat sich nichts. Dort schnarchte noch jemand vor sich hin.
»Roselotte Brombeergeist, willst du wohl endlich aus dem Bett kommen?« Der Obergeist kam genervt zurück und schüttelte unsanft an den Blütenblättern. »Die Geisterstunde hat längst begonnen. Bewege dich und sei nicht so faul. Jede Nacht müssen wir auf dich warten. Ich habe das schon so oft sagen müssen, dabei wiederhole ich mich so ungern.«
Das kleine Geistermädchen erwachte, rieb sie den Schlaf aus den Augen und rückte ihre rosa Schleife auf dem Kopf zurecht. Dann kletterte sie umständlich am Stiel ihrer Blume zum Boden herab.
»Du sollst mich Lotti nennen. Das habe ich auch schon so oft gesagt.« Sie blickte grimmig zurück. »Und du sollst nicht immer mit mir schimpfen. Ich mag das gar nicht. Es ist nämlich gar nicht schlimm, wenn man mal länger schläft.
»Papperlapp.«, erwiderte der Obergeist. »Meine Aufgabe ist es, unsere Gemeinschaft zu leiten, dann muss auch darauf gehört werden, was ich sage.«
»Darf ich da vielleicht auch noch etwas zu sagen?« In diesem Moment schob sich der Kopf einer Schnecke aus ihrem Haus hervor. »Du da oben schimpfst so laut, da kann man ja kein Auge zumachen. Außerdem hat Lotti Recht. Schlaf ist gesund.« Die Schnecke nickte dem Geistermädchen zu. »Und ist ist nicht in Ordnung, immer nur mit ihr zu meckern. Ihr fehlen die wichtigsten Geistereigenschaften. Sie kann nicht durch Wände gehen und schweben schon nicht. Ihr könnt euch wahrscheinlich gar nicht vorstellen, wie anstrengend es ist, auf zwei Beinen hinter euch her marschieren zu müssen.«
Der Obergeist räusperte sich und und blickte beschämt zu Boden. »Du hast ja Recht. Tut mir leid, Roselo … Lotti. Ich werde mich in Zukunft bessern. Dann leg dich wieder schlafen. Wir anderen werden in der Zeit unseren Geschäften nachgehen.« Schon verschwanden die anderen Geister im umliegenden Wald und suchten nach einem geeigneten Frühstück.
»Vielen Dank. Du hast mir richtig gut geholfen. Allein hätte ich mich das nie so getraut. Was machen wir denn jetzt? Wollen wir vielleicht verstecken spielen?«
Die Schnecke war begeistert und nickte. »Ich suche zuerst.«
Für Roselotte Brombeergeist war das eine besonders leichte Übung. Sie hüpfte ein paar Mal über die Wiese, bis sie sich an einer Stelle tief in den frisch gefallenen Schnee plumpsen ließ. Die weiße Farbe ihres Geisterkörpers, der wie ein kleines Tuch an ihr herabhing, war nicht mehr von der Umgebung zu unterscheiden.
»Ich komme!« Die Schnecke drehte sich um, blickte nur kurz in alle Richtungen und begann zu grinsen. »Ich hab dich!« Sie kroch dem Geistermädchen nach und blickte triumphierend in das Loch. »Das war einfach.«
»Och, menno. Dabei kann man mich kaum sehen. Wie hast du das gemacht?«
Die Schnecke zeigte mit ihren Fühlern auf die Spuren, die Lottis Stiefel hinterlassen hatten. »Die anderen Geister hätte ich wohl nicht so schnell entdeckt. Jetzt musst du aber suchen.«
Roselotte hielt sich die Augen zu, begann zu zählen. Die Schnecke versuchte sich aus dem Staub zu machen, kam aber kaum vorwärts. Schon bei normalem Wetter war sie langsam wie eine Schildkröte, auf dem Schnee kam sie kaum noch weg.
»Hundert, ich komme!«
Lotti kletterte aus ihrem Schneeloch und stand direkt hinter der Schnecke. »Oh … ähm … hab dich?«
Die Schnecke blickte traurig zurück. »Ich glaube, ich bin nicht für dieses Spiel gemacht. Ich bin zu langsam.«
Roselotte Brombeergeist grinste. Sie hatte eine Idee. »Dann verstecken wir uns eben gemeinsam.« Sie stülpte ihr weißes Tuch über die Schnecke, hockte sich hin und schloss die Augen. Schon war die Lichtung im Wald wie verlassen. Nichts deutete daraufhin, dass sich hier zwei Freunde versteckt hielten.
(c) 2023, Marco Wittler
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