1525. Postsache

Postsache

Wichtel Waldemar sah auf die Uhr an der Küchenwand. Eigentlich war er schon seit einer Viertelstunde fertig vorbereitet und hätte das Haus nur verlassen müssen, aber ihm war es sehr wichtig, seine Aufgabe ernst zu nehmen. Also achtete er rund um die Uhr darauf, dass alles nach Plan lief.
Die Zeiger sprangen weiter. Es war sieben Uhr. Waldemar nickte, blickte noch einmal zum Vergleich auf seine Armbanduhr und machte sich dann auf den Weg zur Arbeit. Pünktlich um halb acht stand Waldemar vor einem großen, alten Briefkasten, der sich an einem einsamen Gehweg am Stadtrand befand. Er sah sich verstohlen um. Niemand war in der Nähe. Er öffnete eine kleine, unscheinbare Tür und betrat den Kasten. Nur noch die Treppe hinauf, dann hatte er seinen Arbeitsplatz erreicht. Er setzte sich an einen breiten Schreibtisch, der sich direkt hinter dem Einwurfschlitz befand.
Wenige Minuten später wurde die Straße belebter. Menschen verließen ihre Häuser, gingen zur Arbeit, zu Schule oder erledigten ihre Einkäufe. Immer wieder hielten sie am Briefkasten und warfen ihre Postsendungen ein.
Waldemar nahm alle Briefe einzeln entgegen, prüfte sie sorgfältig und sorgte ab und zu dafür, dass sie ihre Reise unbeschadet überstehen würden. Mal klebte er die Kuverts richtig zu, mal mussten gelöste Briefmarken fixiert werden.
Und dann waren da die Momente, auf die er sich immer besonders freute. Es kamen Umschläge herein, die nicht für Behörden oder andere amtliche oder offizielle Nachrichten gedacht waren. Es waren Briefe an Freunde oder geliebte Menschen. Waldemar nahm sie behutsam an. Unter größter Vorsicht, strich er das Papier glatt, entfernte Falten, hinterließ manchmal sogar mit seinem Rotstift das eine oder andere kleine Herzchen, um Liebesbriefe zu verschönern.
Natürlich öffnete der Waldemar die Briefe nicht, um sie zu lesen. Er war eben der geborene Postwichtel und hatte ein Gespür dafür, was im Innern geschrieben war und ob schüchterne Zeilen einen kleinen Schubser durch eine dekorative Zeichnung brauchten.
So saß er Stunde um Stunde hinter dem Schlitz und kümmerte sich um die Post der Menschen, dass diese sich zur größten Zufriedenheit mitteilen konnten.

(c) 2023, Marco Wittler

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