Das kleine Geschenk
Es war Weihnachten. Das sollte eigentlich ein Grund zur Freude sein, doch den meisten Familienmitgliedern graute es vor diesen Feiertagen. Unzählige Verwandte kamen zu Besuch, redeten viel miteinander, beachteten die Kinder nicht und blieben manchmal sogar über Nacht.
Und Kinder gab es dann auch viel mehr als üblich unter diesem Dach. Normalerweise lebten hier Lea, Anna, Timo, Daniel und Sophie. An Weihnachten kamen aber noch ein paar Andere. Onkel Heinz hatte drei, die Tanten Elli und Ina jeweils zwei und Onkel Friedrich sogar vier Kinder. Insgesamt würden dann also sechzehn Kinder durch das Haus wuseln.
Es klingelte an der Tür und die ersten Gäste trafen ein. Sie stapelten im Flur ihre Jacken und die vielen Geschenke und verteilten sich dann auf den viel zu wenigen Sitzplätzen im Wohnzimmer.
»Wir haben dieses Jahr extra einen dritten Tisch gekauft und ins Esszimmer gestellt. Jetzt sollten wir alle gleichzeitig essen können.«, berichtete Papa sofort und wiederholte sich bei jedem weiteren Verwandten, der neu ankam.
Die Kinder verkrochen sich in den Kinderzimmern und spielten und zankten miteinander.
»Oma hat mich lieber als dich.«, war eine Stimme zu hören.
»Ich bekomme eh das größte und teuerste Geschenk von allen.«, ertönte eine weitere.
»Immer das Gleiche.«, stöhnte Mama, als sie das hörte, während sie in die Küche ging und nach dem Essen sah, an dem ihre zwei Schwestern bereits eifrig kochten.
»Aber in drei Tagen ist ja alles vorbei.«
Ein letztes Mal klingelte es an der Tür. Alle Erwachsenen und Kinder verstummten. Selbst Oma, die im gemütlichsten Sessel Platz genommen hatte, sah sich unsicher um. Fehlte denn noch jemand? Eigentlich war die Familie vollständig anwesend.
Papa ging an die Tür und sah zuerst durch das Guckloch. Sehen konnte er allerdings niemanden. Er öffnete vorsichtig die Tür und entdeckte zur großen Überraschung seine Tante Erika, die es sich auf einer Bank neben dem Eingang gemütlich gemacht hatte.
»Das wurde aber auch Zeit. Ich dachte schon, es macht mir keiner auf. Fast wäre ich hier fest gefroren.«
Sie stand auf und kam herein.
»Aber Tante Erika, was machst du denn hier?«, wunderte sich Papa.
»Du hast mich doch eingeladen, oder etwa nicht? Also bin ich gekommen.«, antwortete sie bissig.
Papa wunderte sich noch immer.
»Du hast doch meine Einladungen bisher nie angenommen.«
»Dann wurde es ja höchste Zeit. Willst du mir nicht aus meinem Mantel helfen?«
Aber da hatte sie ihn bereits selber ausgezogen.
Tante Erika betrat das Wohnzimmer und sah sich um. Inzwischen waren auch alle Kinder aus der oberen Etage herunter gekommen und sahen sich neugierig den unerwarteten Gast an.
»Was glotzt ihr denn so? Ihr habt mich doch alle schon einmal gesehen. Also macht nervt mich nicht.«
Sie scheuchte Oma aus ihrem Sessel und machte sich dort breit.
»Ich bin die Älteste in der Familie und habe den gemütlichsten Platz verdient.«, rechtfertigte sie sich.
»Das wird ja ein spannendes Weihnachtsfest.«, grummelte Papa, während er in den Keller ging, um einen weiteren Stuhl aus dem Keller zu holen.
Das Essen verlief ruhig und still. Kaum jemand sprach ein Wort. Jeder blickte stumm auf seinen Teller und aß, was auf den Tisch kam. Zu groß war die Angst, von Tante Erika beschimpft zu werden. Denn das tat sich nur zu gern.
Nach dem Essen zündete Mama ein paar Kerzen im Wohnzimmer an und schaltete das Licht ab. Im Hintergrund waren leise Weihnachtslieder aus der Musikanlage zu hören.
»Es ist Zeit für die Bescherung Kinder. Kommt her und sucht euch eure Geschenke.«
Doch Tante Erika schien das nicht zu gefallen.
»Wie denn? Geschenke? Einfach so? Das hätte es früher nicht gegeben. Zuerst werdet ihr nacheinander ein Gedicht aufsagen oder ein Lied singen, sonst bekommt ihr gar nichts.«
Die Kinder wussten nicht, wie sie darauf reagieren sollten. Sie hatten doch keine Gedichte gelernt. Also schlichen sie zum Bücherschrank und suchten nach einem Liederbuch, aus dem sie kurz darauf gemeinsam etwas sangen.
»Dürfen wir jetzt bitte unsere Geschenke auspacken?«, fragte Lea vorsichtig.
Tante Erika nickte zufrieden und trank ein paar Schlucke aus ihrem Weinglas.
»So muss Weihnachten einfach sein. Die ganze Familie ist beieinander und die Kinder machen noch etwas für ihre Geschenke.«
Das Reißen von Papier war zu hören und die Kinder freuten sich über die vielen Geschenke. Schnell war die schlechte Laune vergessen und sie begannen auf dem dicken Teppich im Wohnzimmer zu spielen. Doch das war wieder ein großer Fehler.
»Wie lange wollt ihr mich denn damit stören? Geht gefälligst in die Kinderzimmer und macht die Türen hinter euch zu. Das kann ja kein Mensch ertragen.«
Wie ein Soldat, der einen Befehl erhalten hatte, gingen die Kinder die Treppe hoch und spielten so leise wie es nur eben ging. Doch ein paar von ihnen trauten sich nicht einmal mehr das.
»Das ist doch das schrecklichste Weihnachten, dass ich je erlebt habe. Warum haben wir nur so gemeine Verwandte in der Familie. Das ist so ungerecht. Papa hätte Tante Erika gar nicht erst einladen dürfen.«
Anna sagte das, was alle Kinder dachten.
»Wir bleiben einfach hier oben, bis sie wieder verschwindet.«
Es klopfte an der Tür und Mama steckte ihren Kopf in das Zimmer.
»Tante Erika erwartet von euch noch ein Geschenk. Sie sagt, dass es sich nicht gehört, wenn die Kinder dem ältesten Familienmitglied nichts schenken.«
Sie sah den Kindern an, sie sehr ihnen das missfiel.
»Es tut mir leid. Aber Papa hatte keine andere Wahl. Sie gehört zur Familie. Deswegen muss er sie jedes Jahr einladen. Es wäre noch schlimmer, wenn er es nicht getan hätte. Dann wäre sie trotzdem gekommen und würde den ganzen Tag mit jedem von uns schimpfen. Ich kann verstehen wie ihr euch fühlt.«
Sie schloss die Türe wieder und lies die Kinder allein.
»Ich werde ihr nichts schenken.«, sagte Lea.
»Von mir aus kann sie auf ein Geschenk warten, bis es in der Wüste schneit.«, schloss sich Daniel an. Die anderen Kinder waren der gleichen Meinung.
Sie wischten die Gedanken an Tante Erika beiseite und begannen wieder zu spielen.
Eine Stunde später wurden die Kinder ins Wohnzimmer gerufen. Tante Erika wartete auf ihr Geschenk.
»Ich habe kein Geschenk für dich.«, sagte Leon selbstbewusst.
»Ich will dir nichts schenken, weil du den ganzen Tag so gemein zu uns warst.«, kam von Leonie.
Und so hatte jedes Kind etwas zu sagen.
Tante Erika wurde wütend und ihr Gesicht lief rot an. Rote Gesichter bekamen auch alle anderen Erwachsenen. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass die Kinder so handeln würden. Doch dann trat Anna schüchtern vor und hielt ein kleines Kästchen in der Hand.
»Ich habe ein Geschenk für dich. Und ich hoffe, dass es dir gefällt.«
Sie legte es auf den Tisch und stellte sich zurück.
Tante Erika nahm das Kästchen ungläubig in die Hand, öffnete es vorsichtig und sah hinein. Im Innern lag ein kleines Herz aus roter Knete. Sie nahm es heraus und besah es sich von allen Seiten.
»Ich möchte dir Freundschaft und Liebe schenken.«, erklärte Anna.
»Du magst vielleicht mit jedem von uns geschimpft haben und alle hier im Haus haben Angst vor dir. Aber vielleicht liegt das ja auch daran, dass dich niemand von uns im ganzen Jahr besuchen kommt und du immer allein bist. Das kleine Herz soll dir aber zeigen, dass du nicht allein bist. Wir sind deine Familie und wir haben dich trotzdem lieb.«
Tante Erika wusste gar nicht, was sie sagen sollte. Dicke Tränen kullerten ihr plötzlich an der Wange herab und sie schluchzte wie ein Schlosshund. Auch die anderen Erwachsenen hatten einen dicken Kloß im Hals.
»Ja, wir lieben dich wirklich.«, hörte sich Papa plötzlich sagen. Er stand auf und umarmte seine Tante. Und dann taten sie es ihm alle gleich. Nach und nach ging jeder Verwandte zu Erika und drückte sie an sich.
Etwas später am Abend, als alle anderen Familienmitglieder schon verschwunden waren, brachten Papa und Anna Tante Erika zur Tür.
»Mein liebes Kind, du hast dafür gesorgt, dass ich in diesem Jahr das schönste Weihnachtsfest meines ganzen Lebens erlebt habe. Für dein kleines Geschenk danke ich dir sehr und ich werde dafür einen ganz besonderen Platz in meiner Wohnung finden.«
Anna lächelte und Tante Erika lächelte zurück.
»Und ich komme dich bald mit allen anderen Kindern besuchen. Dann werden wir bestimmt eine ganze Menge zusammen unternehmen.«
Tante Erika nickte zufrieden.
»Darauf freue ich mich schon sehr. Ich kann es kaum erwarten.«
(c) 2008, Marco Wittler
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