Roselotte Brombeergeist sorgt für Ruhe
Irgendwas krachte mit voller Wucht gegen den Blumenstengel, der kerzengerade in der Wiese nach oben wuchs. Die Blüte am oberen Ende wurde kräftig durchgeschüttelt und weckte die kleine Bewohnerin unsanft aus ihrem Schlaf.
Roselotte Brombeergeist rappelte sich auf, schob vorsichtig zwei Blütenblätter auseinander und sah sich um. Auf der Waldlichtung war das Chaos ausgebrochen. Ihre Geisterfreunde schwebten schreiend hin und her, kleine Insekten , die normalerweise in der Nacht schliefen, wussten nicht wohin. Sogar die Schnecken, die sich bei Gefahr in ihren Häusern versteckten, suchten Schutz unter herabhängenden Blättern. Und abgefallenen Ästen.
»Was ist denn hier los?«
»Schnell, Roselotte Brombeergeist, lauf weg! Uns fällt der Himmel auf den Kopf.«
Roselottes Wangen wurden rot. »Mein Name ist Lotti! Das wisst ihr genau.«
Es donnerte laut. Blitze zuckten vom Himmel.
»Moment mal. Sollte das nicht umgekehrt sein? Irgendwas stimmt hier nicht.«
Noch bevor das Geistermädchen seine Gedanken zu Ende denken konnte, für ein Blitz in seine Blume, zerfetzte sie in kleine Stücke und schleuderte es fort. Lotti schrie und erwachte ein zweites Mal.
Sie sah sich panisch um, bemerkte erst nach einer Weile, dass die Lichtung im großen Wald ganz still war. »Es ist alles in Ordnung.«, beruhigte sie sich. »Du hast nur schlecht geträumt. Die Welt geht heute nicht unter und auch der Himmel fällt und nicht auf den Kopf. Wir sind hier schließlich nicht in Gallien.«
Lotti stand auf und öffnete ihre Blüte. Um sie herum war alles dunkel und ruhig. »Wie krass war das denn? Meine Träume fühlen sich sonst nie so echt an. Ob vielleicht etwas dahintersteckt?«
Sie entschloss sich, der Sache auf den Grund zu gehen. An Schlaf war eh nicht mehr zu denken.
Vorsichtig kletterte sie am Blumenstengel zum Boden hinab. Die letzten Zentimeter sprang sie und landete mit ihren schweren Stiefeln auf dem Boden. Das war auch das einzige Geräusch, dass man hören konnte.
»Ja genau. Das ist es. Es ist still im Wald, zu still. Was ist mit den Grillen, die man sonst in der Nacht von allen Seiten hören kann?« Sie waren verstummt. Das hatte es noch nie zuvor gegeben.
»Hier stimmt was nicht. Ich muss herausfinden, was es ist.«
Lotti machte sich auf den Weg, lief quer durch die Wiese, vorbei an großen und kleinen Grashalmen. Mal bog sie nach rechts, mal nach links ab, ließ sich ganz von ihrem Gefühl leiten.
War da nicht gerade ein Geräusch? Lotti lief auf den Rand der Lichtung zu. Nur wenige Meter dahinter befand sich ein Weg, über den ganz selten Menschen wanderten.
Das Geistermädchen versteckte sich hinter der Wurzel des ersten Baums und blickte sich um. Schritte kamen näher. Jemand näherte sich.
»Ist das …« Es war kaum zu glauben. Da war ein Junge. »Was macht der hier? Sollte er nicht Zuhause in seinem Bett liegen und schlafen? Es ist mitten in der Nacht. Der Wald ist viel zu gefährlich für ihn. Ich habe gehört, dass es ganz in der Nähe spuken soll.« Lotti musste kichern.
Der Junge blieb plötzlich stehen. Aus seinem Rucksack, den Lotti vorher nicht gesehen hatte, holte er die Deckel seiner Kochtöpfe hervor, die er aneinander hielt.
»Oh, oh. Jetzt weiß ich, was er vorhat. Jetzt weiß ich, wovor mich mein Traum warnen wollte.« Sie kam aus ihrem Versteck, stürmte auf den Jungen zu. Dieser erschrak und wurde kreidebleich im Gesicht.
»Du bist ein …« Mehr kam nicht aus seinem Mund, denn Lotti legte ihm eine Hand sanft auf die Lippen.
»Ja, ich weiß. Ich bin ein Geist. Du musst aber keine Angst vor mir haben. Ich werde dir nichts tun. Dafür verlange ich aber von dir, deinen fiesen Plan nicht umzusetzen. Mach hier bitte keinen Lärm. Hier leben und schlafen noch andere. Geister, Tiere und andere scheue Wesen, denen du einen riesigen Schrecken einjagen könntest. Der Wald würde ins Chaos stürzen. Bitte lass das nicht zu.«
Der Junge zitterte am ganzen Körper. Er nickte wortlos und packte seine Topfdeckel wieder ein.
»Wir werden nun ganz still nach Hause gehen. Du legst dich in dein Bett, ich in meines. Dann bekommen wir beide noch eine Mütze voll Schlaf. Du weißt doch, Schlaf ist gesund.«
Er nickte erneut.
»Wenn du Morgen wieder aufwachst, wirst du dich frisch und erholt fühlen. Am Ende denkst du, du hättest nur einen wirklich krassen Traum gehabt.«
Er drehte sich um, nahm die Beine in die Hände und lief los. Nur weg von hier, bevor er sich der Geist anders überlegen konnte.
Roselotte Brombeergeist atmete erleichtert auf. In dieser Nacht würde niemand mehr aus dem Schlaf gerissen werden.
(c) 2024, Marco Wittler
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