1637. Schlaraffenland des Grauens

TRIGGER WARNUNG / CONTENT NOTE:
Bitte lies meine Geschichten einmal selbst, bevor du sie deinen Kindern vorliest. Sie sind zu Halloween etwas gruseliger, auch wenn sie lustig enden. Bitte bewerte vorher, ob dein Kind die Geschichten bereits versteht, damit umgehen kann und sich nicht zu sehr gruselt.

Schlaraffenland des Grauens

Es rumpelte auf dem Dachboden. Kisten wurden hin und her gerückt und geöffnet. Nach einer Weile kam Fritzi zurück zur Leiter, dass die anderen ihren Kopf sehen konnten. »Ich hab es gefunden, kommt schnell rauf.«
Das ließen sich Anni und Ben kein zweites Mal sagen. Sie stürmten die Leiter hinauf und fanden sich in einem Chaos aus alten Dingen wieder, die niemand mehr brauchte.
»Krass. Ihr habt hier oben aber viel Zeug liegen.«, wunderte sich Anni. »Warum wirft das denn niemand weg?«
Fritzi zuckte mit den Schultern. »Mein Papa meint, dass man alles irgendwann noch einmal gebrauchen kann. Spätestens wenn man es weggeworfen hat, ist es am nächsten Tag so weit.« Sie hielt ein dickes Buch mit schwerem Ledereinband hoch. »Zu unserem Glück hat er auch das hier nicht weggeworfen. Das stand früher in Opas Bücherschrank und soll schon seit Generationen im Familienbesitz sein. Es ist bestimmt schon tausend Jahre alt, vielleicht sogar mehr.«
Eine Weile staunten sie nur, bis die Neugierde groß genug war. »Los, lass und reinschauen. Wir finden bestimmt etwas Spannendes.«
Fritzi nickte, legte das Buch auf einen kleinen Tisch und blätterte durch die vergilbten Seiten. »Opa hat mir mal von einer ganz besonderen Tür erzählt, die nur einmal im Jahr zum Vorschein kommt. Die restlichen Tage ist eine ganz normale Wand an ihrer Stelle. Der Raum dahinter ist ein Paradies für Schleckermäuler. Wenn ich nur wüsste, wo das steht.«
Fritzi blätterte weiter. Nach ein paar Minuten grinste sie und zeigte mit dem Finger auf eine Überschrift. »Ha! Ich wusste es doch. Die Kammer der Leckereien. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, wann und wo sie auftaucht. Dann können wir uns eine ganze Nacht lang die Bäuche vollschlagen.«
Gemeinsam lasen sie den Text, jedes Kind abwechselnd einen Satz. Die Aufregung stieg mit jedem Wort.
Sie hatten doppeltes Glück. Die Tür sollte im Keller von Fritzis Eltern in der Halloween Nacht erscheinen. Um Mitternacht, pünktlich zur Geisterstunde, sollte sie für aller Augen sichtbar werden und erst zum Morgengrauen für ein Jahr wieder verschwinden.
Fritzi warf einen Blick in ihr Handy. »Wir haben nur sieben Stunden und zweiundzwanzig Minuten Zeit. Ob das ausreicht?« Sie musste kichern. Natürlich reichte das. »Dann lasst uns nach unten gehen. In fünf Minuten ist es so weit. Wir dürfen keine einzige Sekunde unseres Zeitfensters verschwenden.«
Sie stiegen vom Dachboden herunter, und machten sich auf den Weg in den Keller. Unten angekommen, sahen sie sich in allen Räumen um, blickten hinter Schränke und Regale, konnten aber die geheimnisvoll Tür nicht finden. Ungeduldig mussten sie die verbliebenen Minuten warten.
Draußen erklang die Kirchenglocke und schlug zwölf Mal. Mit dem letzten Gong donnerte es im Keller, ein helles Licht blitzte auf und blendete die Kinder für ein paar Sekunden. Ihnen gegenüber löste sich ein alter Wandteppich und fiel zu Boden. Die gesuchte Tür war erschienen.
Neugierig gingen sie darauf zu. Ben legte als erster die Hand auf die Klinke und drückte sie herunter. Es war nicht verschlossen. Mit einem lauten Knarzen und Quietschen öffnete sich die Tür und gab damit ihr sonst so gut geschütztes Geheimnis preis. In Regalen an den Wänden und auf mehreren Tischen lagen unzählige Süßigkeiten und Knabbereien bereit. Man musste sich nur noch bedienen und den Bauch kugelrund futtern.
»Du meine Güte!« Ben konnte sein Glück noch gar nicht fassen und rieb sich mehrmals die Augen. »Kann mich mal jemand kneifen? Ich glaube, ich bin in Ohnmacht gefallen und träume.« Anni zögerte nicht lange, kniff in Bens Arm, der daraufhin einen spitzen Schrei ausstieß. »Doch nicht so fest. Ich hab empfindliche Haut.«
Fritzi sah sich um. »Das ist noch krasser, als in Hänsel und Gretel. Das Pfefferkuchenhaus ist nur eine billige Vorspeise gegen dieses zuckersüße Schlaraffenland.«
Plötzlich schlug die Tür mit Wucht zu und fiel ins Schloss. Es klackte einmal, zweimal, dreimal. Jemand drehte von außen den Schlüssel herum. Sie waren im Zuckerparadies gefangen.
»Nein, nein, nein!« Ben lief zum Ausgang, drückte die Klinke immer wieder und rammte gleich mehrfach mit der Schulter kräftig gegen die Tür. Die wollte sich aber nicht mehr öffnen.
»Ich muss hier raus. Ich kann nicht eingesperrt sein. Was werden meine Eltern sagen? Ich bekomme bestimmt bis zur Rente Hausarrest und darf nie wieder an meiner Konsole zocken.« Er begann schwer zu atmen. »Ich bekomme keine Luft mehr.« Er sackte langsam zusammen und blieb mit dem Hintern auf dem Boden sitzen. »Man wird uns erst in einem Jahr wiederfinden, richtig?«
Fritzi und Anni setzten sich ebenfalls. Ihnen war die Lust an Zuckerwerk vergangen. Ein Paradies, in dem man eingesperrt war, war alles, nur eben kein Paradies.
»Wir werden schon einen Weg finden.«, versuchte Anni, Bens Angst ein wenig zu verkleinern. Vielleicht haben wir so viel Glück, dass die Regale wie im Märchen aus Lebkuchen bestehen. Dann futtern wir uns einfach ins Freie.«
Bens Gesicht wurde rot. Als er zu sprechen begann, hörte man ihm die Panik an, die in ihm aufstieg. »Märchen? Was denn für ein Märchen? Lass mich mit deinen verdammten Märchen in Ruhe. Was ist, wenn plötzlich eine Hexe auftaucht, die mich mästen und in ihrem Ofen braten will? Ich will hier sofort raus!«
»Eine Hexe wird dich nicht heimsuchen.«, erklang plötzlich eine ruhige, aber bedrohlich wirkende Stimme. Sie erinnerte die Kinder an Dämonen und Teufel, die direkt aus der Hölle stammten. »Nicht die Hexe wartet hier auf euch, sondern meine Geschöpfe der Finsternis. Sie haben eine Ewigkeit auf euch gewartet. Und nun ist es Zeit, sich die Bäuche vollzuschlagen.«
Fritzi, Anni und Ben begannen zu schreien. Sie wollten nicht als Dämonenfutter enden. Sie sprangen auf, rüttelten an der Tür, als sich kleine, schwarze Fledermäuse von der Decke lösten, kugelrunde Augäpfel über den Boden rollten und unzählige Vampirzähne aus einem Eimer im Regal fielen. Eine Kanone verschoss hunderte Marshmallows, die wie dicke Schneckflocken durch die Luft flogen. Die Eingangstür wurde aufgerissen und die Eltern der Kinder stürmten in den Raum. »Happy Halloween!«, riefen sie gemeinsam. »Jetzt kann unsere Gruselparty starten.«
Fritzi atmete erleichtert auf. »Boah, als echt. Leute, das ist der beste Halloween Gruselschocker aller Zeiten gewesen. So krass war das letztes Jahr bei Ben Zuhause nicht. Ihr habt ein dickes Lob für euren Plan verdient.«

(c) 2024, Marco Wittler

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