1668. Ein würdiger Gegner oder „Papa, warum kämpfen Ritter gegen Schnecken?“

Ein würdiger Gegner
oder „Papa, warum kämpfen Ritter gegen Schnecken?“

Leise, beinahe andächtig, spazierte Sofie durch die großen Räume des Museums. Mal blieb sie hier, mal blieb sie dort stehen, um sich die kleinen und großen Bilder an den Wänden anzuschauen.
„Wen ich das schon vorher gewusst hätte, dass man hier so viel entdecken kann, hätte ich schon eher Lust auf einen Museumsbesuch bekommen. Ich dachte immer, dass es hier angestaubt und langweilig ist. Aber nun bekomme ich bei jedem neuen Bild eigene Ideen, die ich Zuhause malen möchte.“
Sie griff nach Papas Hand und zog ihn in den nächsten Raum. Neben dem Durchgang hing ein Messingschild auf dem im großen Buchstaben MITTELALTERLICHE SAMMLUNG geschrieben stand.
Der Stil der hier versammelten Maler war ein ganz anderer. Aber nicht nur das. Ein Motiv, das auf fast jedem Bild zu sehen war, war der Kampf eines mutigen Gegners gegen eine …
„Hä?“ Sofie legte den Kopf schräg und ihre Stirn in Falten. „Ist das hier ein Scherz der versteckten Kamera oder will uns das Museum veräppeln?“
Papa ahnte sofort, was als Nächstes geschehen würde. Deshalb blieb geduldig stehen und wartete auf die Frage seiner Tochter.
Sofie sah ihn nachdenklich an. „Papa, warum kämpfen Ritter gegen Schnecken? Ist das nicht unfair und ungerecht?“
Papa hielt inne, kratzte sich am Kinn und dachte nach.
„Das ist eine gute Frage. Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die ich erst kürzlich gehört habe. Sie handelt zufällig von einem Ritter und einer sehr heldenhaften Schnecke. Und die werde ich dir jetzt erzählen.“
Sofie strahlte über das ganze Gesicht.
„Oh ja, eine Geschichte.“
„Und wie fängt eine Geschichte immer an?“, fragte Papa.
Sofie lachte schon voller Vorfreude und antwortete: „Ich weiß es. Sie beginnt mit den Worten ›Es war einmal‹.“
„Ja, das stimmt. Absolut richtig. Also, es war einmal …“

Es war einmal ein Ritter, der im Dienste des Königs stand und rund um die Uhr dafür sorgte, dass niemand in Burg einbrach, sie überfiel und seinem Herrn etwas zu Leide tat. Nun ja, zumindest hielt er sich dafür.
Nein, das ist eigentlich auch nicht so ganz richtig, denn Ritter Fridolin von Kieselstein war nur ein ganz kleines Licht, ein unbedeutender Mann, den der König nicht einmal beim Namen kannte. Viele andere Ritter standen in dessen Gunst viel höher, hatten sie schließlich schon viele Abenteuer erlebt und grausige Monster erlegt. Das blieb im Gedächtnis. Das gefiel dem König. Doch Fridolin stand tagein und tagaus auf dem Wehrgang des Schlosses und behielt die Umgebung im Auge. Das war seine einzige Aufgabe.
„Ach, wenn ich doch auch nur einmal die Chance bekommen würde, meinem Herrn zu beweisen, was für ein Kerl ich bin, wie mutig und stark. Auch ich kann gegen Untiere und Monster kämpfen, böse Hexen vertreiben, bedrohliche Zauberer vertreiben und Unholde, die sich einer unsittlichen Sprache bedienen, den Platzes verweisen. Stattdessen stehe ich hier und friere in meiner Rüstung.“
Es wäre so schön gewesen, an diesem Abend mit dem König und den anderen Rittern im Thronsaal zu sitzen, um gemeinsam zu trinken und zu speisen, denn es war Weihnachten. Da sollte niemand allein sein. „Vielleicht hätte ich nicht vergessen sollen, meinen Wunschzettel an den Weihnachtsmann zu schreiben. Hätte er gelesen, dass ich bei dem Festmahl dabei sein wollte, wäre ich nun nicht hier.“
Ritter Fridolin von Kieselstein überlegte. Vielleicht war es noch nicht zu spät für einen Wunsch. Doch dieser sollte etwas größer sein, mit Mut und einem neuen Leben zu tun haben.
Er überlegte nicht lang, sondern griff zu Feder, Tinte und einem Bogen Papier.

Lieber Weihnachtsmann.
Ich habe dir noch nie geschrieben, mich nie an die gewandt. Doch heute brauche ich deine Hilfe. Ich möchte ein Teil der Tafelrunde des Königs werden und will ihm meinen Mut beweisen. Ich wünsche mir von dir kein Gold oder Geschmeide, keine anderen irdischen Güter. ich möchte einfach nur einen Kampf gegen einen gefürchteten und nahezu unbesiegbaren Gegner führen, vor dem sich alle anderen Ritter fürchten.
Liebe Grüße, dein Ritter Fridolin von Kieselstein.

P.S.: Bitte verwechsle mich nicht mit dem gleichnamigen Stein, den man oft im Schuh hat, und der einen bis zur Weißglut nervt, dass man ihn vor Wut wegschleudert. Ich bin nur ein ganz normaler Ritter, der einmal in seinem Leben eine Chance haben möchte.

Kaum hatte Fridolin die letzten Zeilen geschrieben, fiel ihm etwas ein. Wie lautete die Adresse des Weihnachtsmanns? Wohin sollte er seinen Wunschzettel schicken?
„Du kannst ihn mir einfach in die Hand drücken. Ich werde mich sofort persönlich darum kümmern.“
Der Ritter fuhr herum und zog sein Schwert. Wer hatte sich so lautlos an ihn herangeschlichen? „Wer da? Freund oder Feind? Gib dich sofort zu erkennen!“
Ein großer, dicker Mann in einem Mantel aus roten und weißen Stoffen und einem langen, weißen Bart, trat aus dem Schatten eines Wachturms.
„ich bin niemandes Feind, aber manchem vielleicht ein Freund. Ich bin …“
Fridolin fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. Er ließ sein Schwert fallen, das klirrend auf den Boden fiel. „Du bist der Weihnachtsmann.“, beendete er den Satz seines Gegenübers.
„Der bin ich wohl.“, sagte dieser mit einem Lächeln im Gesicht. Ich habe mitbekommen, dass du einen sehr späten Wunschzettel geschrieben hast. Ich dachte mir, ich komme einfach persönlich vorbei, um mich sofort darum zu kümmern.“
Der Weihnachtsmann nahm das Papier und las die wenigen Zeilen durch. „Nichts einfacher als das. Heb dein Schwert wieder auf und komm mit. Dein Duell startet in weniger als einem Augenaufschlag.“
Der Weihnachtsmann nahm Fridolin an die Hand, schnippte mit den Fingern der anderen. Beide verschwanden und tauchten auf einer großen Wiese wieder auf. Ihnen gegenüber war kein Ritter, kein Drache oder gefährlicher Löwe. Dort stand eine Schnecke.
„Du, sag mal, Weihnachtsmann, willst du mich auf den Arm nehmen? Ich soll eine lahme Schnecke bekämpfen? Wie unfair ist das denn? Bevor die sich auch nur einmal bewegt, habe ihr ihr längst beide Fühler mit meinem Schwert abgeschlagen.“
Statt zu antworten, kicherte der Weihnachtsmann, als wüsste er etwas, was dem Ritter noch verborgen blieb. Plötzlich richtete sich die Schnecke auf. Wäre ihr Haus nicht fest mit dem Rücken verbunden, es wäre vermutlich fortgekullert. Sie holte tief Luft und schleudert Fridolin eine große Menge Schneckenschleim entgegen.
Mit der glatten Metallrüstung konnte sich der Ritter nicht auf seinen Beinen halten. Er rutschte aus, stürzte und blieb in der schmierigen Pfütze liegen. Die Schnecke kam langsam näher und ließ sich krachend auf ihn fallen. Sie zerdrückte die schöne Rüstung und schloss ihren Gegner darin ein.
„Ist ja gut. Du hast gewonnen. Kannst du bitte wieder aufstehen?“ Lachend erhob sich die Schnecke wieder und kroch langsam davon. „Jetzt weiß ich, wie sich eine Sardine in der Büchse fühlt.“, richtete sich Fridolin an den Weihnachtsmann. „Kannst du mir helfen?“
„Nur, wenn du mir sagen kannst, ob du heute etwas gelernt hast.“
Der Ritter seufzte. „Ich sollte mit dem zufrieden sein, was ich bin und habe. Ich sollte nur nach Höherem streben, wenn ich auch dazu in der Lage bin, es zu erfüllen. Oder auf gut Deutsch: Ich sollte nicht den Mund zu voll nehmen.“
Der Weihnachtsmann nickte zufrieden. Er schnippte wieder mit den Fingern und brachte Fridolin zurück. Die Rüstung sah aus, als wäre nie etwas geschehen.
„Frohe Weihnachten, Fridolin von Kieselstein.“
Er griff in seine Manteltasche, holte eine Plüschschnecke daraus hervor, die er dem Ritter in die Hand drückte. „Ich wünsche dir frohe Weihnachten.“

„Das ist ja eine krasse Geschichte.“ Sofie war begeistert. „Also ist auf jedem Bild die Geschichte von Fridolin und seinem Kampf mit der Schnecke abgebildet?“
Papa nickte.
„Wenn er das nur gewusst hätte. Er ist jetzt viel berühmter, als alle anderen Ritter auf der Welt. Außer vielleicht Ivanhoe, Sir Galahad, Sir Bedivere, Ritter Rüdiger ,Ritter Rost, Ritter …“
Sofie zählte immer mehr Ritter auf, während sie lachend den Saal verließ und sich eine neue Bildersammlung ansah.

(c) 2024, Marco Wittler

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