1694. Das große Schaf am Himmel »Papa, warum fallen die Wolken nicht vom Himmel?«

Das große Schaf am Himmel
»Papa, warum fallen die Wolken nicht vom Himmel?«

Von einem sonnig warmen Tag zu sprechen, wäre untertrieben gewesen, denn es war heiß, viel zu heiß. Es war so unglaublich heiß, dass man es im Garten kaum aushalten konnte. Aus diesem Grund hatte Papa im Schatten der großen Birke ein großes, aufblasbares Planschbecken aufgebaut und fast bis zum Rand mit Wasser gefüllt. Seit ein paar Stunden lagen er und seine Tochter Sofie zum Abkühlen darin und taten nichts anderes, als ihren Fingern zum Zehen beim Schrumpeln zuzuschauen.
Nach einer Weile tauchte, zunächst ganz unbemerkt, eine weiße Schäfchenwolke am Horizont auf. Ganz gemächlich kam sie näher, bis sie den Garten erreicht hatte und Sofies Aufmerksamkeit auf sich zog.
»Papa, schau mal nach oben. Die Wolke schaut aus, wie ein riesiger, wolleflauschiger Dinosaurier.«
Papa, der kurz davor war, einzuschlafen, öffnete seine Augen und richtete seinen Blick auf. Tatsächlich konnte er die Form eines Dinosauriers erkennen. Sie erinnerte ihn an einen zähnefletschenden Tyrannosaurus Rex, der kurz davor war, seine eben erst gefangene Beute in Stücke zu reißen.
Sofie wurde still und dachte nach. In ihrem Kopf formte sich eine neugierige Frage. »Papa, warum fallen die Wolken eigentlich nicht vom Himmel?«
Papa, der eben noch der Länge nach im Wasser gelegen hatte, richtete sich auf, legte die Stirn in Falten und nahm die Wolke über sich genauestens unter die Lupe. Er kratzte sich am Kinn. »Das ist eine sehr gute Frage. Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die ich erst kürzlich gehört habe. Sie handelt zufällig von Schäfchenwolken am Himmel. Und die werde ich dir jetzt erzählen.«
Sofie strahlte über das ganze Gesicht. »Oh ja, eine Geschichte.«
»Und wie fängt eine Geschichte immer an?«, fragte Papa.
Sofie lachte schon voller Vorfreude und antwortete: »Ich weiß es. Sie beginnt mit den Worten Es war einmal.«
»Ja, das stimmt. Absolut richtig. Also, es war einmal …«

Es war einmal ein kleines, wolleweiches Schäfchen, das den lieben langen Tag auf einer Wiese stand und auf den saftig leckeren Grashalmen kaute. Nur gelegentlich blickte es auf, um nach dem Rechten zu schauen. Es hätte durchaus sein können, dass die anderen Schafe ein Stück weiter gezogen waren oder sich ein hungriger Wolf durch die hohen Halme anschlich. doch momentan sah es weder nach dem einen, noch nach dem anderen aus.
»Nanu, was ist denn das?« Dem Schäfchen war eine einzelne Wolke am Himmel aufgefallen, die ziemlich große Ähnlichkeit mit seinen Artgenossen hatte. Umso erstaunter war es natürlich. »Hey, du da oben«, rief das kleine Schäfchen. »Wie hast du es so hoch in den Himmel geschafft«, rief zur Wolke hinauf, die natürlich keine Antwort gab. »Wie du in den Himmel hinauf gekommen bist, habe ich gefragt. Ist es denn so schlimm, auf eine höfliche Frage eine Antwort zu geben? Ich möchte doch nur wissen, wo sich deine Leiter oder Treppe befindet.« Wieder blieb die Wolke stumm.
»Das wird mir jetzt aber zu blöd. Wenn du mir nicht antworten willst, suche ich eben selbst nach dem Weg zu dir rauf.« Das Schäfchen behielt die Wolke noch für ein paar Momente im Auge, bis es die Flugrichtung erkennen und damit auch den Startpunkt erahnen zu können. Dann marschierte es einfach los, immer auf die Berge am Horizont zu. Dort musste es einen geheimen Aufgang geben.
Es ging über Stock und Stein, durch Wiesen und Felder, über Schotter und Kiesel, bis das Schäfchen einen dichten Wald erreichte. von hier an wurde der Weg immer beschwerlicher, denn es musste sich durch dichte Büsche und an mächtigen Bäumen vorbeikämpfen. Hinter einem großen Felsen machte es eine Entdeckung. Tief im Boden verwurzelt stand eine mächtige Pflanze, die bis zum Himmel hinauf gewachsen war. »So ist das Schaf also in den Himmel gekommen. Wäre doch gelacht, wenn ich das nicht auch schaffen würde. Es wäre so unglaublich toll, einmal meine grüne Wiese von oben betrachten zu können.« Das Schäfchen packte zeigte Blätter der Ranke und zog sich nach oben. Stück für Stück ging dem Himmel enzugegen.
Die Klettertour war unglaublich anstrengend. Schon nach ein paar Metern brannten die Muskeln in den Beinen des Schafs, wie das große Lagerfeuer des Hirten, wenn er die Nacht auf der Weide bei seinen Tieren verbrachte. Trotzdem kletterte es unermüdlich weiter und ignorierte jeden Schmerz.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte es den Himmel gerade rechtzeitig, den in diesem Moment, kehrte die Wolke an ihren Startpunkt zurück.
»Du bist ja so viel größer, als ich es gedacht habe. Du musst das größte Schaf sein, dass es auf der Welt gibt … oder darüber.« Es grinste, machte vorsichtig einen Schritt nach vorn und betrat das Innere der Wolke. »Das ist ja seltsam. Du bist so wolleweich wie meine Mama, aber ein Schaf scheinst du gar nicht zu sein. Dir fehlen Beine und ein Kopf, die aus deinem Fell herausschauen. Was genau bist du, und wie kannst du im Himmel schweben, ohne auf den Boden zu stürzen? Ich kann das nämlich nicht.«
Langsam und sachte, setzte es einen Fuß vor den anderen, immer in der Angst, doch noch herunterzufallen. Zum Glück ging aber alles gut.
In der nebelverhangenen Ferne wurde eine Tür sichtbar, vor der ein sich ein Vogel mit breiter Brust aufgestellt hatte. Er entpuppte sich als mächtiger Adler, auf dessen Nase eine Sonnenbrille saß.
»Willkommen im Cloud Club. Wer sich benimmt, darf mit uns feiern, wer für Ärger sorgt, den befördere ich höchstpersönlich zurück vor die Tür. Mehr Regeln gibt es bei uns nicht.« Er trat zur Seite, öffnete die Tür und bedeutete dem Schäfchen mit einer Bewegung seines Flügels, dass es eintreten durfte. »Viel Spaß beim feiern.«
Das Schäfchen ging weiter und fand sich in einem riesigen Wolkensaal wieder, in dem sich unzählige Vögel befanden. Die einen tanzten wie wild mit flatternden Flügeln, die anderen saßen in gemütlichen Ecken und unterhielten sich mit lautem Zwitschern und Krächzen.
Das Schäfchen sah sich genau um und begann zu lächeln. »Jetzt weiß ich endlich, wie sich dieses riesige Gebilde mit Leichtigkeit im Himmel halten kann. Das Flattern der Vögel ist das große Geheimnis.« Nun war seine Neugier befriedigt. Das Schäfchen lief auf die Tanzfläche und hüpfte im Takt der Musik, bis es nicht mehr konnte und es Zeit wurde, nach Hause zurückzukehren.

Sofie blickte von Papa zur Wolke und zurück und begann zu lachen. »Das war eine richtig schöne Geschichte.«, sagte sie begeistert. »Trotzdem glaube ich dir davon kein einziges Wort.«

(c) 2025, Marco Wittler

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