Roselotte Brombeergeist kriegt die Kurve
Über dem finsteren Wald war es dunkel geworden. Mit den ersten Sternen, die wie Nadelstiche in einem Zirkuszelt wirkten, war die Nacht hereingebrochen. Alles lag in friedlicher Stille, bis der Vollmond sein Antlitz über den Horizont schob und einen ersten zaghaften Lichtstrahl auf eine kleine Lichtung traf und damit auf ein paar kleine, unscheinbare Blümchen, die hier wuchsen.
Nach und nach öffneten sich die weißen Blütenblätter und gaben Preis, was sie in sich verbargen.
»Es ist Zeit!«, rief eine Laute Stimme. Aus einer der Blumen stieg ein schimmernder Geist empor, dem noch mehrere Dutzend anderer folgten. Wie in einem wilden Tanz schwirrten sie umeinander und ließen schnell geschäftiges Treiben erkennen. Bunte, leuchtende Lampions wurden an Büschen und Bäumen aufgehängt. Entlang des nahen Waldrandes wurde mit einem Seil eine Strecke abgesteckt, die immer wieder wilde Kurven in die eine und die andere Richtung beschrieb.
Der Geist, der als erster erwacht war, sah sich um und zählte gewissenhaft seine Artgenossen durch, bis er inne hielt. Er kratzte sich verwirrt am Kopf, zählte ein zweites Mal und dachte nach. »Wer fehlt denn da?« Er sah sich um. »Wo ist Trainerin Roselotte Brombeergeist? Wir können nicht ohne sie beginnen. Hat jemand Roselotte Brombeergeist gesehen?«
In diesem Moment fuhr ein kleines Geistermädchen in ihrer Blüte auf. Schnell richtete sie die rosa Schleife auf ihrem Kopf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Roselotte Brombeergeist war erwacht.
»Auch wenn es so aussieht, ich habe nicht verschlafen. Ich bin hellwach und studiere seit Stunden meine Trainingspläne.« Sie gähnte laut und streckte sich. »Außerdem habe ich es schon tausend Mal gesagt, ihr sollt mich Lotti nennen.«
Statt wie andere Geister herab zu schweben, bog Lotti zwei Blütenblätter zur Seite und kletterte umständlich am Blumenstengel herab, bis sie mit ihren großen, festen Stiefeln auf dem Boden stand. Sie marschierte durch das hohe Gras zur abgesteckten Strecke und besah sie sich. »Das gewinnen wir mit links.«
Aus den Baumkronen kamen kleine Eichhörnchen geklettert. Sie alle hatten unterschiedliche Nummern auf ihrer Brust gemalt. Das Kleinste von ihnen kam mit gesenktem Kopf auf Lotti zu.
»Ich glaub, mich verlässt der Mut. Schau dir doch die anderen an. Sie haben viel längere und kräftigere Beine, sind größer und hatten mehr Zeit für ihr Training. Ich bin so klein, dass man mich an der Ziellinie übersehen wird. Ich traue mich gar nicht, am Wettrennen teilzunehmen.«
Das Geistermädchen nahm ihren Schützling in den Arm und drückte ihn sanft. »Das wird schon werden. Man gewinnt nicht nur mit Größe oder Muskeln, man gewinnt mit Köpfchen und der richtigen Idee.«
Das Eichhörnchen seufzte, nickte und schlich zum Start. Das Rennen konnte beginnen.
Die Trainer nahmen am Streckenrand ihre Plätze ein und bereiteten ihre Schilder vor, mit denen sie ihren Schützlingen Anweisungen und Tipps geben konnten, ohne den Lauf zu unterbrechen.
Der Älteste Geist hob eine Fahne über seinen Kopf, gab das Startkommando und ließ sie wieder fallen. Die Eichhörnchen sprinteten los und bogen in die erste Kurve ein.
Während die anderen Trainer in die Höhe schwebten, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Lotti hingegen blieb am Boden. Da sie es bei ihrer Geburt etwas zu eilig hatte, blieben ihr die geisterhaften Fähigkeiten leider verwehrt.
Runde um Runde liefen die Eichhörnchen auf der Lichtung im Kreis. Runde um Runde fiel Lottis Schützling zurück, bis er nicht mehr an ihr vorbei kam.
Das Geistermädchen wurde nervös, lief auf und ab, bis sie es an ihrem Platz nicht mehr aushielt. »Ich muss ihn suchen und finden.«
Entgegen der Laufrichtung marschierte sie an der Strecke entlang, musste mitansehen, wie alle anderen ihren Vorsprung weiter ausbauten, bis … Da war es. Ihr kleines Eichhörnchen saß am Stamm einer großen Eiche und rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Stirn. »Au, au, autsch. Tut das weh.« Es hatte zu sehr auf seine Gegner geachtet und dabei gegen den Baum gelaufen.
»Das macht nichts. Das ist schon den Besten passiert.«, versuchte Lotti die Enttäuschung zu mildern. »Ich musste mal ein Geisterrennen abbrechen, weil ich nicht durch Türen und Wände gehen kann, wie es den anderen möglich ist. Wir trainieren einfach die nächsten Monate weiter und gewinnen das Rennen im nächsten Jahr.«
Mit Tränen im Gesicht stand das Eichhörnchen auf und nickte. »Außerdem habe ich eine ganz dicke Beule am Kopf.«
Lotti konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Damit schaust du aus, wie ein kleines, rothaariges Einhorn.«
Die Augen des Eichhörnchens begannen plötzlich zu leuchten. »Ein Einhorn? Oh, ja! Ein Einhorn. Ich bin ein Einhorn.« Es begann zu lachen und strich sich stolz über die Beule. »Ich bin ein echtes Einhorn, das einzige im finsteren Wald.« Es blickte Lotti fest in Augen. »Du weißt, was das bedeutet?«
Nein, Lotti wusste es nicht, wollte aber diesen besonderen Moment nicht kaputt machen. »Natürlich weiß ich es. Aber ganz wichtig ist, dass du es selbst weißt und mir mit voller Überzeugung sagst.«
Das Eichhörnchen nickte. »Das bedeutet, dass ich als Einhorn wirklich alles schaffen kann. Das ist Teil meiner magischen Kräfte. Ich werde das Rennen fortsetzen und gewinnen.«
Es ließ sich nicht lange aufhalten und sprintete los. Runde um Runde lief es um die Lichtung, ließ sich vom Schein des Vollmonds antreiben. »Ich kann das. Ich schaffe das. Ich bin ein Einhorn. Für mich gibt es nichts, das unmöglich wäre.« Es erreichte den vorletzten Läufer und überholte ihn, dann noch einen und noch einen. Auf der letzten Runde war es mit dem führenden Eichhörnchen gleich auf. Meter für Meter näherten sie sich dem Ziel. Erst mit dem letzten Schritt konnte Lottis Schützling den ersten Platz erreichen und das Rennen gewinnen.
Lotti lief zum Ziel drückte das Eichhörnchen fest an sich und überreichte ihm eine goldene Medaille. »Die hast du dir redlich verdient. Ich hab dir im Training versprochen, dass man alles erreichen kann, wenn man an sich selbst und seine Fähigkeiten glaubt. Deswegen hast du heute gewonnen.«
»Und weil ich ein obercooles, rotes Einhorn bin.«, sagte das Eichhörnchen und lachte.
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