1702. Der steile Zahn des Vampirs

Der steile Zahn des Vampirs

Kurz nach Einbruch der Nacht fiel der erste helle Lichtstrahl des Mondes durch ein kleines Fenster in den Keller der alten Burg. Eigentlich hätte dies ausgereicht, um den Vampir in seinem Sarg zu wecken. Leider stoppte der Deckel das Licht. Es blieb also still an diesem verborgenen Ort.
Ein paar Minuten später klingelte ein Wecker im Inneren der Holzkiste. Der Vampir riss erschrocken die Augen auf, suchte verzweifelt in den Taschen seines Schlafanzugs und fand schließlich sein Handy. Mit leichtem Druck auf das Display verstummte der Ton.
»Wie oft soll ich dir denn noch sagen, dass ein Vibrationsalarm völlig ausreichend ist. Bei diesem Lärm machst du nur meine kleinen Freunde wach. Hoffentlich war ich schnell genug.«
Der Vampir drückte den Sargdeckel ein kleines Stück hoch und schob ihn so weit zur Seite, bis er aussteigen konnte. Sorgenvoll lief er durch sein Verlies, den Gang zur Treppe entlang und hielt seinen Blick immer zur Decke gerichtet, wo die Fledermäuse friedlich schliefen. Noch einmal Glück gehabt. Sie befanden sich weiterhin im Traumland.
Der Vampir zog aus seiner Westentasche eine goldene Taschenuhr hervor, klappte sie auf und riss die Augen auf. »Was denn? Schon so spät? Wenn ich mich nicht beeile, verpasse ich meinen Termin.«
Er lief die Treppe hinauf, trat ins Freie und verwandelte sich in eine Fledermaus. So konnte er auf schnellstem Wege in das nahe Dorf fliegen, ohne erkannt und aufgehalten zu werden. Er landete vor einer Haustür, nahm wieder seine natürliche Gestalt an. Mit zittriger Hand griff er zum großen Messingring, der von einem metallenen Löwenkopf gehalten wurde und klopfte an. Kaum war der dritte Schlag verklungen, wurde ein schwerer Schlüssel im Schloss gedreht und die Tür geöffnet. Der Weg ins Haus war frei.
Ein Kopf lugte hervor, blickte erst zur einen, dann zur anderen Seite. »Gut, wir sind allein. Ich hoffe, es hat dich niemand gesehen. Du weißt, dass mir das meinen guten Ruf versauen wird.« Der andere griff den Vampir am Ärmel und zog ihn ins Haus, dessen Flur nur sehr spärlich beleuchtet war. »Folge mir. Je eher wir beginnen, desto eher können wir wieder getrennte Wege gehen und kein Dorfbewohner wird je ahnen, dass du hier gewesen bist.«
Sie betraten einen hell erleuchteten, in dessen Mitte ein gepolsterter Stuhl stand, in dem man nur halb aufrecht liegen konnte. Davor hing ein Tablett in der Luft, das nur von einem dünnen Metallarm gehalten wurde und auf dem verschiedene Zangen bereit lagen. Der Vampir hatte einen der Orte aufgesucht, die für ihn den größten Horror und die schlimmste Angst bedeuteten. Normalerweise würde er jetzt fluchtartig das Weite suchen, trotzdem nahm er zitternd im Behandlungsstuhl Platz. »Mach es bitte kurz und schmerzlos, bevor ich es mir anders überlege.«
Der Zahnarzt nickte wortlos, griff zur Spritze und betäubte einen der beiden langen, spitzen Zähne und holte ihn wenige Minuten später mit einer der Zangen heraus.
Der Vampir atmete erleichtert auf. Er hatte es hinter sich gebracht.
»Wirklich tapfer.« Der Zahnarzt klopfte ihm auf die Schulter, bevor er den Zahn in ein Tütchen packte und seinem Besitzer in die Hand drückte. »Jetzt musst du dich aber beeilen. Er darf nicht zu lange da drin bleiben.
Der Vampir nickte, bedankte sich und flog zurück zur alten Burg. Mit eiligen Schritten lief er in das Kellergewölbe, schlich unter den Fledermäusen her, bis er die richtige entdeckte. Vorsichtig weckte er das Tier und hielt ihr lächelnd seinen Zahn vor die Augen. »Damit du spätestens Morgen wieder richtig zubeißen kannst. Ich konnte mir das einfach nicht mitansehen, dass du nur noch einen spitzen Zahn besitzt.«
Vorsichtig setzte er seinen Beißzahn der Fledermaus ein, die über das ganze Gesicht dankbar strahlte.
»Und jetzt ist es Zeit für meinen Lieblingsdrink.« Der Vampir schlenderte zum Kühlschrank, holte eine Flasche Blutorangensaft hervor und stieß mit seinem Spiegelbild an der gegenüberliegenden Wand an, das nun nur noch einen spitzen Zahn besaß. Zumindest stellte er sich vor, dass er sich dabei sah, wie er sich selbst zuprostete, denn als Vampir hatte er sich noch nie in einem Spiegel erblicken können.

(c) 2025, Marco Wittler

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