1704. Der Fluch des falschen Mondes

Der Fluch des falschen Mondes

In den Straßen der Stadt war es still, einsam und leer. Niemand wagte sich mehr vor die Tür. Zu groß war die Angst, von den Wesen der Finsternis überrascht und geholt zu werden. Wohin? Das vermochte niemand so genau zu sagen. Um einen freundlichen Ort konnte es sich dabei aber nicht handeln, darin war man sich einig. Während sich unter freiem Himmel Geister, Vampire, Zombies, Monster, Mumien und andere Schrecken tummelten, saß man angespannt mit Gänsehaut auf den Armen und eiskalten Gefühlen auf dem Rücken im heimischen Sessel. Hier und da knackten Kaminfeuer, um wenigstens etwas angenehme Atmosphäre zu haben. Doch auch das wollte nicht gegen die Angst vor dem Unaussprechlichen helfen.
In besagter Nacht war es jedenfalls so gruselig, dass selbst die Wesen der Schattenwelten nicht aus ihren Verstecken gekrochen kamen und es gerade deswegen die Bewohner der Stadt hätten wagen können. Doch davon wusste lediglich Nino, der eine breite, schmierige Schleimspur auf dem Gehweg hinterließ.

An dieser Stelle muss ich kurz unterbrechen. Nino war natürlich keine grauenerregende Kreatur, die nur auf Halloween gewartet hatte, um sich an den redlichen Bürgern zu laben. Ganz im Gegenteil. Nino war du Gutmütigkeit in Person. Er war eine Schnecke mit einem beinahe kugelrunden Haus auf dem Rücken. Um etwas schneller vom einen Ende der Stadt zum anderen zugegangen, stand er auf einem Skateboard, das von seinem treuen Begleiter, dem Hund Wuschel, gezogen wurde.
Ja. Jetzt bin ich auch etwas verwirrt, obwohl ich der Erzähler dieser äußerst seltsamen Geschichte bin. Tatsächlich frage auch ich mich, wie und warum Nino eine Spur aus Schneckenschleim auf seinem Weg hinterlassen konnte, obwohl er mit Hund und Skateboard unterwegs war.
»Darf ich mich vielleicht kurz einmischen und etwas dazu sagen? Vielleicht klärt sich dann alles schneller auf.« Nino hatte seine rasante Fahrt kurz unterbrochen und hielt einen Eimer hoch, in dem sich ein breiter Pinsel befand. »Normalerweise schleime ich nicht alles voll. Aber heute ist halt Halloween und ich möchte einfach auf Nummer Sicher gehen. Wer meine Schleimspur sieht und mir folgt, um mich zu überfallen, muss davon ausgehen, dass ich sehr viel langsamer unterwegs bin und sich Zeit lassen. Alle anderen denken einfach nur, dass hier ein großes, ekliges Monster durch die Stadt zieht und mir aus dem Weg gehen. So hab ich meine Ruhe. Ist doch ganz einfach.«
Ja doch. Das klingt ganz einleuchtend. Vielen Dank für die Erklärung. Aber kommen wir nun zurück zur Geschichte.

Nino und Wuschel waren ganz allein in der Stadt unterwegs. Lediglich das Licht des Vollmonds, dass sich in ein paar leichten Nebelschwaden brach, schien sie auf ihrem Weg zu begleiten. »Wir haben es gleich geschafft, Wuschel. Nur noch zwei Kreuzungen, dann sind wir endlich daheim.«

Ja, an dieser Stelle wundere ich mich jedes Mal, wenn ich von Nino erzähle und muss mich dann selbst daran erinnern, dass die Schnecke zwar ein Häuschen auf seinem Rücken mit sich trägt, dennoch wie alle anderen Bewohner der Stadt, ein richtiges Haus sein eigen nennt.
»Das ist wie bei euch Menschen. Ihr habt doch auch ein richtiges Dach über dem Kopf. Alles andere nennt sich Wohnwagen, Camper oder Wohnmobil.«, mischte sich Nino ein zweites Mal ein. »Mit denen fahrt ihr natürlich nicht jeden Tag durch die Gegend. Ich hingegen lege mein Schneckenhaus niemals ab. So kann ich jederzeit an meinen Kühlschrank gehen, wenn ich Durst habe oder mich vor dem Regen schützen, wenn es einen Wolkenbruch gibt und ich mal wieder meinen Schirm vergessen habe.« Nino kicherte leise, zwinkerte Wuschel zu und zeigte auf ein kleines Fenster, durch welches man den Schirm an einem Kleiderhaken sehen konnte.

Sie erreichten in wenigen Minuten ihr trautes Heim und wollten es gerade betreten, als Ninos Blick auf die Straßenlaterne fiel, die direkt hinter seinem Zaun stand. Unter ihrem Licht flogen und taumelten unzählige Insekten. Kleine Käfer, Motten und Mücken schwebten sie in großer Menge beständig im Kreis und kamen nicht vom Fleck.
»Hä? Was machen die da oben?« Nino glitt vom Skateboard, näherte sich der Laterne und blickte hinauf. Schon wollte er fragen, was vor sich ging, hörte dann aber viele kleine Stimmen, die vor Erschöpfung seufzten und stöhnten.
Wuschel, schau! Die Kleinen sind völlig erledigt. Wenn nicht sofort etwas passiert, fallen sie vor Müdigkeit herunter und werden sich am Boden ernsthaft verletzen. Wir müssen dringend etwas unternehmen.«
Doch halt! Warum flogen die Insekten eigentlich zu diesem künstlichen Licht? Sollten sie nicht dem Mond entgegen eilen?
Nino sah zum Himmel hinauf. Der Mond war verschwunden. Eine dicke Wolkendecke hatte sich in den letzten Minuten unbemerkt über die Stadt gelegt und verhinderte nun, dass Mond und Sterne zu sehen waren.
»Die kleinen Flieger sind völlig irritiert und verwechseln die Lichter miteinander. Wie sollen sie jemals auf den rechten Weg zurückfinden und nach Hause kommen? Wir brauchen einen Plan.«
Nino dachte nicht lange nach. Er glitt zum Haus, und kroch ins Bad. Verzweifelt durchwühlte er den Spiegelschrank über dem Waschbecken, bis er ein paar Farben fand, die von der Halloweenparty im letzten Jahr übrig geblieben waren. Mit größter Sorgfalt und viel Geschick begann er, sein Schneckenhaus zu bemalen und zu verzieren.
»Ich hoffe, dass es funktioniert und wir nicht irgendwelche Passanten versehentlich zu Tode erschrecken. Das wäre mir nämlich äußerst unangenehm und peinlich.«
Nino drehte und wendete sich, betrachtete sich mit kritischem Auge im Spiegel und nickte erst nach einer Weile. Er war mit seinem Werk zufrieden.
»Und jetzt ab nach draußen. Wir haben eine Mission zu erfüllen.«
Die Schnecke kroch auf das Skateboard, Wuschel zog an der Leine. Gemeinsam verließen sie das Haus und suchten die Laterne auf.
»Ich habe mal gehört, dass man das Licht abschalten kann, wenn man kräftig gegen den Masten tritt. Nicht, dass ich das jemals ausprobiert hätte. Ich habe nur mal davon gehört.«

Jetzt hat diese kleine Schnecke, dieser Schelm im Schneckenhaus, den Erzähler zum Schmunzeln gebracht. Natürlich glaube ich Nino, dass er noch nie gegen eine Laterne getreten hat. Ich habe nämlich auch noch nie gemacht und weiß daher auch nicht, ob es stimmt, was ich hier erzähle. Aber solltest du mal an einer Laterne vorbeikommen, probiere es bitte nicht aus. Dafür kann man nämlich Ärger bekommen. Es könnte nämlich sein, dass ich damit schon Erfahrungen gemacht habe – also nicht ich, nur ein Freund. Ähnlich. Ja. Machen wir doch einfach mit der Geschichte weiter.

Nino fiel es alles andere als leicht, gegen die Laterne zu treten. Einer Schnecke musste das auch unglaublich schwer fallen, denn Schnecken verfügen nur über einen einzigen Fuß. Auf diesem stehen und gleiten sie. Möchten sie gegen etwas treten, fallen sie einfach um.
»Ich weiß, wie wir das Problem lösen. Wir brauchen jede Menge Anlauf.«
Wuschel zog das Skateboard ein paar Meter den Gehweg entlang, wendete und stürmte auf die Kreuzung zu. Kurz vor der Laterne sprang er zur Seite, machte halt und sah gespannt zu, wie Nino gegen den Masten krachte und das helle Licht augenblicklich verschwand. Es wurde dunkel.
Irritiert beendeten die Insekten ihr Kreisel und blickten sich um. Wohin war plötzlich der Mond verschwunden?
Nino schaltete das Licht in seinem Schneckenhaus an, welches die dünne Kalkschicht leicht durchdrang. Die Schminke, die nun von hinten beleuchtet wurde, wirkte wie ein Mond, der auf den Gehweg gestürzt war.
»Hier bin ich! Ich bin euer Mond!« Die vielen Insekten ließen sich nicht lange bitten. Sie flogen herab. Nino lachte begeistert. Sein Plan ging auf. »Folgt mir! Folgt meinem Licht, wie ihr es immer macht! Ich bringe euch sicher nach Hause.«
Es ging quer durch die Stadt. In jeder Straße verabschiedeten sind ein paar Käfer, Motten und Mücken, bis auch die letzte den Weg in ihr Bettchen gefunden hatte. Dem Fluch des falschen Mondes waren sie entkommen.
»Jetzt können auch wir beruhigt nach Hause fahren und ins Bett verschwinden.«
Nino streichelte Wuschel über den Kopf. Im Augenwinkel entdeckte er einen Mann, der gerade seine Frau vom Fenster wegschob und die Gardinen zuzog. »Setz sich wieder aufs Sofa, Elfriede. Da draußen gehen seltsame Dinge vor sich. Ich bin mir nicht sicher, erkläre mich nicht für verrückt, aber ich glaube, ich habe den Mond durch die Straße rollen sehen, auf einem Skateboard, gezogen von einem Hund.« Nun verschwand auch er im Innern seines Hauses. »Ich hasse dieses Halloween. Da passieren die schrecklichsten Dinge, die sich niemand erklären kann.«

(c) 2025, Marco Wittler

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