1706. Die Nacht der tausend Werwölfe

Die Nacht der tausend Werwölfe

Er seufzte wohlig, während sein Blick in die Ferne schweifte.
»Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie sehr ich es genieße, an einem Fenster sitzen zu dürfen, das nach Westen rausgeht. Jeden Tag versüßen uns die Farben des Sonnenuntergangs den Abend und manchmal sieht man, wie der Vollmond dafür ihren Platz einnimmt.«
Herr Fritte, ein großgewachsener Kater mit grauem und weißen Fell, stellte seine Teetasse auf den kleinen Tisch neben seinen Sessel. Er zog sich seine bunte Fliege zurecht, faltete die Hände auf seinem Abendmantel und bekam einen verträumten Blick.
»Ich mag keine Vollmondnächte. Die sind mir zu gruselig.« Anton, ein zweiter grauweißer Kater, der zwar einen Kopf kleiner war, dafür aber umso breitere Schultern besaß, strich sich fröstelnd über die muskulösen, tätowierten Oberarme. »Wenn der Vollmond hoch am Himmel steht, ziehen Werwölfe durch die Straßen und machen Jagd auf alle ehrbaren Leute, die es nicht rechtzeitig nach Hause geschafft haben. So verschwinden jeden Monat eine Hand voll von ihnen, ohne auch nur eine einzige Spur zu hinterlassen.«
Herr Fritte hatte seinem treuen Begleiter aufmerksam zugehört, blickte ihn aber nun ein wenig amüsiert an. Man konnte ihm ansehen, dass er einen Schalk im Nacken sitzen hatte. »Was passiert eigentlich mit einem Werwolf, wenn es zeitgleich eine partielle Mondfinsternis gibt und er nur zur Hälfe zu sehen ist?«
»Vielleicht wächst dann das Fell nur teilweise oder er muss sich mit einer Rasur anpassen. Was weiß denn ich? Ich möchte darüber auch nicht nachdenken. Dabei komme ich nur auf düstere Gedanken, die mich dann die ganze Nacht nicht schlafen lassen. Am Ende steht noch so ein Ungetüm an meinem Körbchen und frisst mich bei lebendigem Leibe auf.«
Damit war das Thema für Anton erledigt. Er griff nach einem Tablett und räumte Teekanne und Tasse ab, um sie in die Küche zu bringen.
Am Kamin erhob sich ein weiterer, dritter Kater, er wesentlich kleiner war als die anderen. Er griff nach zwei Krücken und mühte sich langsam auf die Beine, bevor er herüber kam. Mister Little, der persönliche Assistent von Mister Fritte räusperte sich. »Hat denn irgendwer von ihnen beiden schon einen Werwolf gesehen oder beruht das alles auf Hörensagen? Ich meine, vielleicht ist es ja auch ganz anders. Wir müssten nur nach ihnen suchen und sie fragen.«
Anton rümpfte die Nase. »Pah! Mich kriegen keine zehn Pferde heute Nacht nach draußen. Nicht, dass ich Angst hätte, ich bin groß und stark.« Er stellte das Tablett ab und ließ seine Muskeln spielen. »Da wir aber nicht wissen, wo sich Werwölfe rumtreiben, können wir uns nicht mit ihnen treffen. Es wird also zu keiner Begegnung kommen.«

Erst jetzt, nachdem Mister Little eine Hand langsam hob, fiel Anton auf, dass er zwischen zwei Fingern eine alte, vergilbte Zeitungsseite hielt. »Rein zufällig bin ich gerade auf einen Artikel gestoßen, der vor ein paar Jahrzehnten verfasst wurde. Der Autor behauptet darin, Werwölfe nicht nur gesehen, sondern auch beobachtet zu haben. Was genau er dabei entdeckt hat, hat er nicht überliefert, dafür einen Ort. Die Klippe auf der anderen Seite der Bucht.«
Die Blick von Herrn Fritte begann zu glänzen. Er legte die Arme auf die Lehnen seines Sessels. Es konnte nur noch Sekunden dauern, bis er sich erheben und losfahren wollen würde. »Was für eine großartige Idee, mein lieber Mister Little. Wir sollten sofort aufbrechen. Ein abenteuerlicher Ausflug kommt mir gerade recht.«
Es klirrte laut. Porzellan zerbrach am Boden. Anton hatte vor Schreck das Tablett fallen lassen. »Ich werde selbstverständlich hier bleiben und auf das Haus aufpassen. In einer Vollmondnacht, in der Werwölfe auf den Straßen ihr Unwesen treiben, sollte man sein Heim nicht eine Sekunde aus den Augen lassen.«
Herr Fritte schüttelte grinsend den Kopf. „Kommt nicht in Frage, mein lieber Anton. du willst doch bestimmt nicht den ganzen Spaß verpassen. Ich erwarte euch in zehn Minuten abfahrbereit an unserer Kutsche.«
Es dauerte keine zehn Minuten. Ein knurriger, schlecht gelaunter Anton stieg in die Kutsche, während die anderen Kater schon vor ihm Platz genommen hatten. Wortlos ließ er sich in die gepolsterten Sitze fallen und verschränkte die Arme vor seiner Brust. »Ich fahre nur mit, um später sagen zu können, dass ich es euch ja gesagt habe. Nur deswegen.«
Herr Fritte legte ihm beide Pfoten auf die Schultern, sah seinen Freund verständnisvoll an und nickte. »Es wird alles gut. Vertrau einfach auf meine Instinkte.«
Oh ja. Die Instinkte des Herrn Fritte, dachte sich Anton, die die drei KAter schon so oft in schwierige Situationen gebracht hatten.
Sie fuhren los. Die Kutsche rumpelte unruhig mit den hölzernen Rädern über grob gepflasterte Straßen. Es ging von der einen Klippe am Meer herunter, quer durch das nahe Dort, nur um ein Weilchen später die nächste Klippe zu erklimmen. Noch bevor sie ihr Ziel erreichten, machten sie Halt und parkten unter einer dunklen Baumgruppe.
»Von hier aus gehen wir zu Fuß weiter. Wenn sich tatsächlich dort oben Werwölfe versammeln, sollten wir keinen Lärm machen. Wir würden sie nur unnötigen aufschrecken und vielleicht in die Flucht schlagen.«
»Oder auf uns aufmerksam machen und ihren unstillbaren Hunger heraufbeschwören.«, murmelte Anton grummelnd.
»Was?«, fragte Herr Fritte noch einmal nach.
»Ach, nichts weiter. Auch mich hört hier eh niemand.«
Herr Fritte und Anton bewegten sich auf leisen Pfoten vorwärts, während sie Mister Little in einem kleinen Handkarren hinter sich herzogen. Normalerweise nahm der kleine Kater keine Hilfe an und wollte so viel wie möglich selbst laufen, aber der Aufstieg war für seine Beine einfach zu anstrengend.
Ihr Weg führte durch ein kleines Wäldchen, dass sich nach und nach lichtete, bis der Blick auf die Klippe frei war.
»Dort sind sie!« Es verschlug Herrn Fritte den Atem. Ehrfürchtig blieb er stehen, während Anton Schnappatmung bekam und verzweifelt nach einem Versteck suchte. Herr Little lächelte zufrieden. Er hatte recht behalten.
»Können wir jetzt umkehren und nach Hause fahren? Ich glaube, ich habe das Feuer im Ofen nicht gelöscht. Wenn es außer Kontrolle gerät, brennt das Haus ab und ich bin Schuld.« Anton drehte sich um, wollte losmarschieren, da legte sich ihm eine Pfote auf die Schulter. Herr Fritte hielt ihn auf. »Wir sind nicht so weit gekommen, um jetzt aufzugeben, bevor wir nicht wissen, was hier vor sich geht.«
Anton seufzte, nickte und begleitete die Freunde weiter auf dem Weg.
»Wie viele mögen das sein? Es müssen hunderte sein. Sie kommen bestimmt von überall her.« Herr Fritte konnte sich nicht satt sehen, wäre nur zu gern die Reihen der sitzenden Wölfe abgeschritten. »Aber was tun sie da? Warum haben sie alle …?«
»Warum sie alle Notizblöcke und Stifte in ihren Pfoten halten? Vielleicht kann ich euch eure Frage beantworten.«
Aus der Dunkelheit schälte sich ein besonders großer Werwolf. Nein. Da war ein kleines Detail, dass Herrn Fritte erst jetzt ins Auge fiel. Auf dem Kopf, neben einem der aufmerksamen Ohren, saß eine kleine Haarspange mit einem rosa Schleifchen. Es musste sich um eine Werwölfin handeln.
Sie musste den Blick des Katers bemerkt haben, tastete kurz nach ihrem modischen Accessoire und lächelte. »In meinem Fall denkt ihr richtig. Ich bin eine Werwölfin, aber das ist reiner Zufall. Manche unserer männlichen Vertreter tragen auf gern Schleifchen. Wir sind, was das angeht, sehr offen. Schicke Mode ist für alle da.«
Sie näherte sich Herrn Little. Der kleine Kater bekam nun doch etwas Angst, hätte seinem Handkarren, in der er noch immer saß, beinahe einen Stoß gegeben, um zurück zur Straße zu rollen, blieb aber schließlich wo er war.
»Wie ich sehe, hast du diesen alten Artikel über uns gefunden und hast deine Freunde auf uns neugierig gemacht. Es freut mich, dass ihr eure Angst überwunden habt, um uns aufzusuchen. Lasst mich erklären, warum wir alle hier sind und was nicht in dem Artikel steht. Zuallererst: wir sind genau eintausend Werwölfe aus aller Welt.«
Die Werwölfin bedeutete den Katern, ihr zu folgen. Mister Little stieg aus seinem Gefährt, gesellte sich zu den anderen. Gemeinsam folgten sie ihr.
»Wir hüten seit Urzeiten ein sehr großes Geheimnis. Niemand in der Welt, bis auf einen eifrigen Journalisten und bald auch euch, weiß dass es niemanden gibt, der oder die so gut rechnen kann, wie Werwölfe. Es ist uns von der Natur gegeben, mit Zahlen umzugehen und zu jonglieren. Rechnen ist für uns in etwa so, wie für euch das Atmen.«
Verstohlen blickte Herr Fritte auf die Notizblöcke und sah auf den Blättern Striche, viele Striche, sehr sehr viele. Auf anderen wurden Punkte gezeichnet, die ihn irgendwie an Sternbilder erinnerten.
»In jeder Vollmondnacht sitzen wir auf dieser Klippe und zählen die Sterne am Himmel.« Sie lächelte. »Ich weiß, was ihr fragen wollt. Nein, es ist keine sinnlose Arbeit, denn die Anzahl verändert sich. Immer wieder fallen einzelne Sterne vom Himmel und verbrennen als Schnuppen auf dem Weg zur Erde. Eines Tages wären nicht mehr genug von ihnen dort oben, um den Seeleuten die Richtung zu weisen, damit sie sicher in ihren Zielhäfen ankommen. Wir suchen nach den fehlenden Sternen und ersetzen sie.«
Erst jetzt fiel den Katern auf, dass an einer entfernten Stelle der Klippe eine Papierlampe entzündet wurde. Langsam stieg sie auf, lediglich von der Wärme der Flamme getragen und gesellte sich zu den Lichtern am Firmament.
»Wir sorgen für Ordnung, damit niemand auf den Weltmeeren verloren geht.« Sie grinste und sah zu Anton rüber. »Und nein, noch nie hat ein Werwolf irgendwann und irgendwo jemanden gefressen.«
Anton straffte sich, machte den Rücken gerade und machte eine wegwischende Bewegung mit der Pfote. »Wer erzählt denn solchen Blödsinn? Also ich bestimmt nicht. Ich habe keine Angst vor Werwölfen. Ihr seid Wesen wie du und ich.«
»Um eines möchte ich euch allerdings noch bitten.« Die große Werwölfin wurde nun ernster. »Ihr müsst uns nun verlassen. Wir brauchen Ruhe, um unsere Aufgabe zu verrichten. Was ihr hier gesehen und erfahren habt, bleibt ein Geheimnis. Wir wollen verhindern, dass mehr Neugierige hier auftauchen und uns stören. Das könnte sonst dafür sorgen, dass wir uns verzählen und fehlende Sterne übersehen.«
Die Kater stimmten zu. Sie nahmen Abschied und fuhren völlig sprachlos nach Hause zurück. Mit Vielem hatten sie gerechnet, nur damit nicht.

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