527. Der Weihnachtsdrache

Der Weihnachtsdrache

Heiligabend.
Familienvater Peter war noch auf den verschneiten Straßen einer kleinen Stadt unterwegs, um noch einige Besorgungen für das Weihnachtsfest zu erledigen. Mit Mühe und Not zog er einen Handkarren hinter sich durch den hohen Schnee, da er sich einen Schlitten nicht leisten konnte.
»Hoffentlich finde ich noch einen Weihnachtsbaum, der meinen Lieben gefallen wird.«
Nur zu gern hätte er alles schon viel früher erledigt, aber da Peter in den Diensten des Königs stand, hatte er in der ganzen Adventszeit nicht einen freien Tag gehabt. Er hatte sich die ganze Zeit um das Schmücken des Schlosses und das Verpacken der Geschenke für die Königsfamilie gekümmert.
Peter sah auf seinen Einkaufszettel, den er mit blau angelaufenen Fingern vor seine Nase hielt.
»Weihnachtsbaum, Kerzen, ein Braten, Pudding für die Nachspeise und Geschenke für meine liebe Frau und die Kinder. Wie soll ich das alles bei dieser Kälte schaffen?«
Alle paar Minuten klopfte er sich dicke Schneeflocken vom Mantel, denn es schneite ununterbrochen.
»Bei dem Wetter schickt man nicht mal einen Hund vor die Tür. Hoffentlich erfriere ich nicht unterwegs. Das wäre sonst ein sehr trauriges Weihnachtsfest.«
Peter beeilte sich. Er stapfte von einem Laden zum anderen. Er feilschte mit den Händlern um die Preise und hoffte, dass sein Geld für den gesamten Einkauf reichen würde.
Am Ende fehlte nur noch ein Baum. Der fiel Peter besonders schwer, denn die meisten Verkäufer hatten ihre Stände bereits abgebaut. Ein einziger war noch auf dem Marktplatz und wartete darauf seine letzten beiden Tannen zu verkaufen.
Es waren ein großer, schöner Baum mit vielen grünen Ästen. Er war einfach perfekt. Der andere sah sehr ärmlich aus. Er war geradezu mickrig. Seine Äste teilweise geknickt und einige Nadeln hatte er auch schon verloren.
»Wie viel willst du für den großen Baum haben?«, fragte Peter, der schon darüber nachdachte, wie er ihn auf dem Handkarren befestigen sollte.
»Für dieses Prachtstück mache ich dir einen Sonderpreis.«, verkündete der Händler. »Für läppische 3 Schillinge kannst du ihn gleich mitnehmen.«
Peter holte seinen alten, abgegriffenen Geldbeutel hervor und zählte die wenigen Münzen, die ihm noch geblieben waren. Dann bekam er einen roten Kopf.
»Ich habe nur noch zwanzig Groschen. Mehr ist mir nicht von meinem Geld geblieben.«
Der Händler lachte und musste sich den Bauch halten.
»Du willst mich wohl auf den Arm nehmen. Für zwanzig Groschen bekommst diesen kleinen missratenen Baum. Und das auch nur, weil ich heute meinen freundlichen Tag habe.«
Peter seufzte, zahlte und packte den kleinen Baum auf seinen Karren. Dann stapfte er wieder los und machte sich auf den langen Heimweg.
Nach einer halben Stunde hatte er die Stadtmauer hinter sich gelassen und musste nun durch Wald und Felder gehen. Der Wind blies hier draußen besonders stark. Dazu kam auch noch, dass es mittlerweile dunkel geworden war.
Zur Kälte, die Peter bis in seine Knochen gekrochen war, kam nun auch die Angst dazu. Überall konnten Diebe und Wegelagerer in ihren Verstecken liegen. Aber sie waren noch nicht das Schlimmste, was einem Wanderer geschehen konnte. Denn eine Begegnung mit einem Drachen aus dem nahen Gebirge verlief immer tödlich für die Menschen.
Peter versuchte schneller zu laufen. Aber bis zu seinem Dorf musste er noch einige Kilometer zurücklegen.
Und dann sah er plötzlich ein Licht auf einem der Berggipfel aufleuchten.
»Nein!«, entfuhr es ihm.
»Da oben sitzt einer von ihnen. Wenn ich nicht sofort ein Versteck finde, bin ich in ein paar Minuten Drachenfutter.«
Er sah sich entsetzt um. Leider waren weder ein großer Felsen, noch ein dicker Baum in der Nähe.
Das Licht auf dem Berg wurde größer und kam schnell näher. Der Drache hatte sich von seinem Beobachtungsposten erhoben und flog nun ins Tal hinab.
Peter begann, um Hilfe zu schreien.
»Hey, sei doch nicht so laut. Du weckst noch alle Regenwürmer in der Erde auf.«, hörte er eine Stimme über sich.
Es war der Drache. Er war kleiner, als er gedacht hatte.
»Darf ich hier landen? Mir werden langsam die Flügel schwer. Fliegen ist ganz schön anstrengend.«
»Wenn du mich nicht auffrisst.«, brachte Peter zitternd hervor.
»Ach, keine Sorge. Erstens: Ich bin satt. Zweitens: Ich fresse keine Menschen.«
Peter atmete auf, hielt dann aber wieder inne. War es vielleicht nur ein fieser Trick?
»Ich … ich … ich schmecke gar nicht.«, stotterte er verzweifelt.
»Ich weiß.«, antwortete der Drache. »An dir ist eh nicht viel dran. Bist ja nur Haut und Knochen. Davon wird kein ordentlicher Drache satt. Also mach dir keine Sorgen. Ich werde dich nicht fressen.«
Der Drache grinste. Doch das machte Peter noch mehr Angst, denn nun konnte er unzählige messerscharfe Zähne sehen.
»Verschwinde! Lass mich in Ruhe!«, brüllte er in seiner Verzweiflung.«
»Oh. Schade. Ich hatte gehofft, dass ich dich begleiten darf, um mir mit einem Gespräch die Langeweile zu vertreiben. Aber du magst wohl keine Drachen.«
Der Drache ließ die Mundwinkel fallen und flog enttäuscht davon.
Peter atmete durch. Er hatte nicht damit gerechnet, diese Begegnung zu überleben.
»Nur schnell nach Hause.«
Er setzte seinen Weg fort, ging nun noch schneller. Trotzdem hatte er noch eine Stunde Fußmarsch vor sich. Irgendwann kam er in ein Waldstück. Hier fühlte er sich um einiges sicherer. Zwischen den dicht stehenden Bäumen konnten Drachen mit ihren großen Flügeln nicht fliegen oder landen. Doch dann hörte wieder diese Stimme.
»Was ist eigentlich dieses Weihnachtsdings?«
Der Drache war wieder da. Er kam hinter einem der Bäume hervor auf den Weg gelaufen?
»Mich das immer schon interessiert, aber die anderen Drachen haben davon noch nie gehört und ihr Menschen habt immer zu viel Angst, um mir davon zu erzählen.«
»Nein!«, schrie Peter. »Nicht schon wieder. Willst du mich jetzt doch noch fressen? Ich will aber noch nicht sterben.«
»Du bist echt ein Spielverderber.«
Der Drache verschwand wieder.
Peters Herz pochte wie wild in seiner Brust. Trotzdem begann er nun zu rennen. Er wollte nur noch nach Hause, hinter seine sichere Haustür. Dort konnte ihm der Drache nicht mehr nachstellen.
»Nun warte doch mal, Mensch. Ich will doch nur ein wenig mit dir reden und verstehen, was das mit Weihnachten auf sich hat.«, ertönte es nun von oben.
Peter achtete nicht mehr darauf. Er antwortete auch nicht mehr. Er rannte nur noch um sein Leben.
Dann erreichte er sein Dorf. Er lief kreuz und quer durch die Straßen, bis er sein Haus erreicht hatte.
»Lasst mich rein! Schnell! Rettet mich vor dem Drachen!«
Peters Frau öffnete sofort die Tür und sah entsetzt nach draußen.
»Keine Sorge, mein Liebster. Er ist nicht mehr da.«
Peter war gerettet. Endlich konnte er durchatmen, zur Ruhe konnen. Er ließ sich noch ein wenig Zeit, bis er begann, den Weihnachtsbaum aufzustellen und die Kerzen auf seinen spärlichen Ästen zu befestigen.
Währenddessen bereitete seine Frau das Festessen vor und packte die Geschenke für die Kinder in buntes Papier ein.
»Wenn du fertig bist, kannst du die Kerzen anzünden, mein Liebster. Ich bin nämlich auch bald fertig.«, rief sie irgendwann aus der Küche.
Peter, der nun auch schon wieder lächeln konnte, griff in seine Tasche, um die Streichhölzer heraus zu holen, die er in der Stadt gekauft hatte.
Streichhölzer? Moment?
»Verdammt!«
Er schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn.
»Ich habe beim Einkauf die Streichhölzer vergessen. Ich kann die Kerze nicht anzünden.«, musste er nun seiner Familie beichten.
»Wir werden dieses Jahr wohl ein dunkles Weihnachtsfest feiern.«
Da klopfte es am Fenster. Der Drache war wieder da und sah durch das leicht vereiste Glas herein.
»Wenn ihr mich rein lasst, kann ich euch helfen. Ich hab auch mein eigenes Feuer dabei.«
Er versuchte es mit einem Lächeln. »Vielleicht könnt ihr mir dann auch erklären, was es nun mit Weihnachten auf sich hat.«
Peter lief es eiskalt den Rücken runter. Doch seine Frau nickte ihm ängstlich zu.
»Wenn er dich wirklich hätte fressen wollen, dann hätte er es schon unterwegs tun können.«
Das leuchtete ein. Also öffnete Peter die Tür und ließ den Drachen herein. Dieser freute sich so sehr, dass er gleich neben dem Weihnachtsbaum Platz nahm und sofort alle Kerzen anzündete. Damit war das Weihnachtsfest gerettet.
Von diesem Tag an feierte der Drache jedes Jahr mit Peter und seiner Familie Weihnachten. Und was es mit diesem Weihnachtsdings auf sich hatte, erfuhr er dann auch.

(c) 2015, Marco Wittler

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