Der große Kürbis und der Flaschengeist
Am frühen Morgen näherte sich ein vor Aufregung zitternder Finger dem Kalender. Es war wieder an der Zeit, ein weiteres Kläppchen zu öffnen, um dahinter eine kleine Leckerei zu finden.
Das Papptürchen schwang mit einem quietschenden Laut auf. Dahinter saß ein kleiner, vor Angst sich windender Wurm, der nur zu gut wusste, was ihm nun blühte.
Zwei knochige Finger griffen nach dem Wurm und führten ihn zu einem gierigen Mund, der ihn schließlich verschlang.
Moment mal! Ein Kalender, in dem sich Würmer befinden? Wo gibt’s denn sowas? Gehört da denn nicht Schokolade hinein?
Ja, normalerweise steckt in einem Adventskalender, wie wir ihn kennen, immer ein Stück süße Schokolade. Aber in diesem Fall handelte es sich eben nicht um einen Adventskalender. Es war ein Halloweenkalender. Er hing an einer Wand im Haus des großen Kürbis, dem Meister des Halloweenfestes. Also war es auch ganz in Ordnung, dass sich hinter dem Kläppchen ein Wurm befand.
»Joah. Ganz lecker.«, seufzte der große Kürbis. »Viel besser, als der verfaulte Zombiefinger von Gestern. Der liegt mir immer noch schwer im Magen.«
Er rieb sich vorsichtig mit der Hand über Bauch und verzog gequält das Gesicht. Dann blickte er noch ein letztes Mal auf das geöffnete Kläppchen. Es war der 24. Oktober.
»Nur noch eine Woche, dann ist es so weit.«
Der große Kürbis dachte darüber nach, was er noch alles erledigen musste, damit das diesjährige Halloweenfest zu einem vollen Erfolg werden würde.
»Ich hasse diese stressige Zeit. Meine Kollegen haben bestimmt viel gemütlichere Berufe ausgewählt und weniger zu tun.«
Er dachte an den Nikolaus, den Weihnachtsmann und das Christkind, die sich die Adventszeit durch drei teilen konnten.
»Ich bin froh, wenn es November wird. Dann kann ich endlich in den Urlaub fahren. Wenn das noch lange so weiter geht, bekomme ich irgendwann ein fieses Magengeschwür.«
Dann schleppte er sich lustlos ins Büro, setzte sich an seinen Schreibtisch und sah die Aufgaben für den heutigen Tag durch.
1. Mumien kontrollieren, ob alle Verbände noch sitzen
2. Nachfragen, ob Süßes und Saures ordnungsgemäß produziert und verpackt wurden
3. Die Vampire zum Zahnarzt schicken, um ihre Beißer anspitzen zu lassen
4. Brüllprobe der Monster
5. Besuch in der Sargfabrik
6. Meeting mit Frankensteins Monster
7. Fügelreinigung bei den Fledermäusen
8. Chorprobe der Zombies
9. Bandtreffen der Geister Rock Show
»Uff. Das ist doch viel zu viel. Wie soll ich das denn alles schaffen?«
Er seufzte laut und stützte sein Kinn in den Händen ab.
»Geh doch mal ein paar Minuten nach draußen vor die Tür und schnapp was frische Luft.«, schlug ihm sein alter Zombiesekretär vor. »Vielleicht geht es dir danach etwas besser.«
»Du hast Recht.«, stimmte der große Kürbis zu. »Ich sollte mir öfter mal Zeit für mich nehmen, sonst schaffe ich es nicht mehr bis zum Halloweenfest.«
Er stand auf, zog sich seine Jacke über und schlurfte zur Tür. Bevor er das Haus verließ, drehte er sich noch einmal um.
»Ach, ja … äh … tut mir leid, dass ich gestern deinen Finger gegessen habe. Hätte ich gewusst, dass deiner im Halloweenkalender steckt, hätte ich das nicht gemacht.«
»Ist schon in Ordnung, Chef.«, lächelte der Zombie. »Den Finger war schon alt und ist von allein von der Hand gefallen. Ich vermisse ihn gar nicht.«
Der große Kürbis nickte betrübt. Ein alter Zombiefinger. Kein Wunder, dass sich Magen nun rebellierte. Wahrscheinlich kroch der Finger in seinem Inneren hin und her und kitzelte und piekte ihn hier und da.
Draußen war es kalt geworden. Es war zwar erst mitten im Herbst, aber der Winter war schon mit großen Schritten auf dem Weg hierher. Kleine Dampfwölkchen bildeten sich vor dem Mund.
Der große Kürbis ging ein paar Meter die Straße entlang, bis er unter einer Hecke etwas entdeckte. Irgendwas glitzerte da im Sonnenlicht.
»Hm, was kann das denn sein?«
Er ging näher und entdeckte eine alte, verstaubte Flasche.
»Ein Wein?«, fragte er sich und dachte darüber nach, wie lange er schon keinen guten Tropfen mehr genossen hatte.
Also zog der große Kürbis den Korken aus der Öffnung und wollte sich einen großen Schluck gönnen. Doch statt des Weins entströmte der Flasche nur violetter Rauch, der sich schnell zu einer Wolke und schließlich zu einer Person formte.
»Das glaub ich jetzt nicht.«, war der große Kürbis überrascht.
»Ein Flaschengeist? Ein richtig, echter Flaschengeist? Ich dachte, die gibt es nur im Märchen.«
Der Flaschengeist verzog gekränkt das Gesicht.
»Ich bevorzuge die Bezeichnung Dschinn. Geister sind doch nur gewöhnliche Flaschenbesetzer, die nicht arbeiten wollen.«
Er verneigte sich kurz.
»Vielen Dank, dass du mich aus meinem Jahrhunderte langem Gefängnis befreit hast. Mein letzter Herr hat versehentlich den Korken zu tief in meine Flasche gedrückt und sie dann verloren. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie eng es darin ist. Mir tut jeder Knochen einzeln weh.«
Er streckte sich genüsslich.
»Da du mich gefunden und befreit hast, bist nun du mein neuer Meister und hast drei Wünsche frei.«
Der große Kürbis war begeistert. Drei Wünsche. Das war viel besser als auf einer Kirmes an der Schießbude mit freier Auswahl.
»In Ordnung. Dann wünsche ich mir zuerst 1.000 weitere Wünsche.«
Der Dschinn seufzte. »Ich hab es befürchtet. Irgendwie passiert mir das immer wieder. Ich sollte besonders diesen speziellen Wunsch für die Zukunft ausschließen. Das bedeutet jetzt wieder unzählige Überstunden.«
Der große Kürbis grinste, nahm die Flasche an sich und nahm sie mit nach Hause. Der Dschinn folgte ihm ergeben.
Im Büro übergab der Kürbis seinem neuen Diener den Tagesplan.
»Hier! Das sind deine Aufgaben für heute. Kümmer dich bitte darum und gib dir Mühe.«
Der Dschinn nickte, nahm die Liste an sich und verschwand.
»Und ich kann jetzt endlich mal die Füße hochlegen.«
Und so ging es nun tagein tagaus. Der große Kürbis übergab dem Dschinn die Aufgabenliste und der Dschinn erledigte sie. Der Kürbis schlief jeden Tag länger und verbrachte seine neue Freizeit damit, in der nahen Umgebung spazieren zu gehen und sich zu entspannen.
»So habe ich mir mein Leben immer vorgestellt. Ruhig und viel Zeit für mich.«
Doch diese Ruhe sollte nur von kurzer Dauer sein. Nach zwei Tagen veränderte sich ganz plötzlich etwas.
Der große Kürbis kam von einem seiner Spaziergänge nach Hause. Er steckte den Schlüssel in das Schloss seiner Tür, doch dieser ließ sich nicht drehen.
»Was ist denn jetzt los?«, wunderte er sich. »Das Schloss war vorhin noch in Ordnung.«
»Das Schloss ist immer noch in Ordnung.«, hörte er von drinnen die Stimme des Dschinns. »Es ist nur ein neues Schloss.«
Der große Kürbis wurde wütend. »Was soll das? Lass mich sofort rein. Ich wünsch es so.«
Der Dschinn lachte. »Deine tausend Wünsche sind aufgebraucht. Und da ich mich auf deinen Wunsch hin hier um alles kümmern muss, bin nun ich der Herr des Halloweenfestes. Das hab ich mir durch meinen Stress und meine Überstunden verdient.«
Er lachte wieder. »Und nun hau ab. Du bist hier nicht mehr erwünscht.«
Der große Kürbis war entsetzt. Der alljährliche Stress war zwar schlimm, aber sich gar nicht mehr um Halloween kümmern zu dürfen, war noch viel schlimmer.
Er begann zu weinen. »Bitte tu mir das nicht an. Das ist unmenschlich. Bitte gewähre mir nur noch einen einzigen Wunsch. Lass mich bitte wünschen, dich von deiner Aufgabe zu entbinden.«
In diesem Moment öffnete sich die Tür des Haus und der Dschinn ließ den großen Kürbis eintreten.
»Vielen Dank für diesen letzten Wunsch.«,war der Dschinn froh. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie glücklich mich das macht. Weißt du eigentlich, wie gestresst ich nach nur zwei Tagen bin? Ich weiß gar nicht, wie du das all die Jahre ausgehalten hast.«
Er schüttelte dem großen Kürbis die Hand, steckte seine Flasche ein und verschwand mit einem großen Puff in einer rauchenden, violetten Wolke.
Der große Kürbis ging vergnügt zu seinem Schreibtisch, sah auf die aktuelle Kalenderseite und freute sich schon auf seine heutigen Aufgaben.
(c) 2018, Marco Wittler
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