Das verlorene Geweih
Rudolf wurde mitten in der Nacht wach. Seine Blase drückte. Er musste zur Toilette. Er hatte wohl am Abend zu viel getrunken. Also stand er von seinem Strohlager auf und schlich zum Ausgang der großen Scheune.
Ganz vorsichtig setzte er einen Huf vor den anderen, um keines der Rentiere, die hier auch noch schliefen, zu wecken.
Doch kurz vor dem großen Holztor passierte es. Rudolf stolperte über ein lang ausgestrecktes Bein und stürzte der Länge nach zu Boden.
»Autsch! Verdammt!«, fluchte er laut. »Warum müsst ihr hier auch alle kreuz und quer verteilt liegen.«
Dann machte sich das Leittier der weihnachtlichen Rentierherde auf den Weg zur Toilette und dachte voller Grimm an seine vier aufgeschürften Knie.
Im Toilettenraum angekommen, vergaß Rudolf sehr schnell seine leichten Verletzungen, als er im Vorbeigehen einen Blick in den Spiegel warf.
»Mein Geweih!«, rief er entsetzt. »Wo ist mein Geweih geblieben?«
Tatsächlich fehlte da plötzlich etwas auf seinem Kopf.
Sofort war die drückende Blase vergessen. In seiner Panik rannte Rudolf zurück zum Stall und fand sein verlorenes Geweih dort wieder, wo er Minuten zuvor gestürzt war. Es war im viele kleine Teile zerbrochen.
»Das werd ich nie wieder tragen können. Da hilft nicht mal mehr der Sekundenkleber aus der Weihnachtswerkstatt. Der Weihnachtsmann wird stinkesauer sein.«
Nein, der Weihnachtsmann war nicht sauer. Dafür war er ein viel zu netter und verständnisvoller Mann. Der Unfall stimmte ihn vielmehr traurig.
»Ich muss dir etwas Unangenehmes mitteilen, Rudolf.«, begann der Weihnachtsmann.
»Ohne dein Geweih kann ich dich in diesem Jahr nicht mit auf meine Reise um die Welt nehmen.«
Rudolf erschrak. Ein Weihnachtsfest ohne ihn hatte es noch nie gegeben. Das durfte auch dieses Mal nicht geschehen.
»Ich muss aber mit. Dann muss es halt ohne Geweih gehen.
Aber der Weihnachtsmann schüttelte den Kopf. »Jedes Kind kennt dich mit Geweih. Ich weiß nicht, wie sie reagieren, wenn sie dich ohne sehen sollten. Außerdem gibt es einen noch viel wichtigeren Grund, den du wohl vergessen hast.«
Rudolf nickte verstehend. »Stimmt ja. Das Geweih arbeitet wie ein Radar und warnt uns beim Flug vor gefährlichen Hindernissen.«
Das Rentier seufzte traurig.
Ich hätte dich wirklich gern auf meiner Reise dabei. Aber in deinem Zustand ist das zu gefährlich.«, beendete der Weihnachtsmann das Gespräch.
Am Weihnachtsabend stand Rudolf traurig etwas abseits, während der große Schlitten vorbereitet wurde.
Der Weihnachtsmann kam aus seinem Haus und hatte ein Paket unter dem Arm. Das war noch nie vorgekommen.
»Es ist an der Zeit, dass wir eine neue Tradition einführen.«, begann er seine Rede vor dem Abflug.
»Ab sofort wird das allererste Geschenk eines jeden Weihnachtsfestes noch hier am Nordpol vergeben.«
Er hielt das Paket über seinen Kopf, dass es jeder sehen konnte.
»Dieses hier ist für meinen treuen Freund Rudolf, der mich bisher jedes Jahr auf meiner Reise begleitet hat.«
Der traurige Rudolf wischte sich eine Träne aus dem Gesicht, trat vor und nahm das Geschenk an sich.
»Danke, Chef.«, sagte er leise.
Dann öffnete er das Paket und holte ein neues Rentiergeweih daraus hervor.
»Das ist für mich?«, war er überrascht. »Ganz ehrlich?«
Der Weihnachtsmann nickte lächelnd, während Rudolf das Geweih aufsetzte.
»Passt wie angegossen.«
»Dann kannst du mich ja auf meiner anstehenden Reise begleiten.«, sagte der Weihnachtsmann und zeigte auf seinen gepackten Schlitten.
Rudolf ließ sich das kein zweites Mal sagen und nahm sofort seinen Platz an der Spitze der Rentiere ein. Nur Minuten später hob der Schlitten ab und verschwand in der Dunkelheit der Nacht.
(c) 2019, Marco Wittler
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