796. Weihnachten mit dem Geschichtenschreiber

Weihnachten mit dem Geschichtenschreiber

Es war schon früh dunkel geworden am Weihnachtsabend. Dicke Regenwolken hatten den Himmel verhangen und ließen nichts vom spärlich gewordenen Licht zur Erde durchkommen.
Eine kleine, fast aufgebrauchte Kerze war die einzige Lichtquelle im Raum, die nur wenig Wärme verströmte.
Vor der Kerze saß ein einsamer Mann vor einem leeren Blatt Papier. Er dachte angestrengt nach, denn er wollte eine unglaublich schöne Weihnachtsgeschichte schreiben. Doch so sehr er sich auch Mühe gab, es wollte ihm nichts Gescheites einfallen.
Das Herz war diesem Geschichtenschreiber in den letzten Tagen so schwer geworden. Während alle anderen Menschen in der Stadt Geschenke für ihre Liebsten und leckere Spesen für den Weihnachtsabend gekauft hatten und nun bestimmt viel Spaß miteinander hatten, saß er allein in seiner kleinen Stube.
Freilich lasen die Menschen der Stadt jeden Tag seine Geschichten, aber dachte auch nur einer von ihnen darüber nach, wie es dem Geschichtenschreiber an den Feiertagen ging? Wahrscheinlich nicht. Deshalb schaffte es auch keine einzige Idee in seinen Kopf.
Seufzend wollte der Schreiber seine Feder zur Seite legen. Doch irgendwie löste sie sich nicht mehr von seiner Hand. Es schien, als wäre sie mit der Haut fest verklebt worden.
Der Geschichtenschreiber schüttelte die Hand hin und her, zerrte an der Feder. Erfolg hatte er damit aber nicht. Als er schließlich seine Versuche aufgab und die Hand auf den Tisch niederlegte, machte sich die Feder selbstständig. Sie bewegte sich über das Papier und zog die Hand dabei mit sich.
Buchstabe für Buchstabe wurde auf dem Papier verewigt. Mit jedem neuen Wort entstand eine neue Geschichte, die so schön war, dass sie den Geschichtenschreiber anrührten und er beim Lesen erste Tränen vergoss.
Zeile um Zeile füllte sich das Blatt auf dem Schreibtisch, bis schließlich ganz unten rechts der letzte Punkt gesetzt und damit die Geschichte beendet wurde.
»Es ist so wahnsinnig schön.«, freute sich der Geschichtenschreiber und wischte sich über die feuchten Augen und Wangen. »So eine schöne Weihnachtsgeschichte hat es in dieser Welt noch nicht gegeben. Davon müssen die anderen Menschen unbedingt erfahren.«
Doch wie sollte er noch an diesem Abend die anderen Bewohner der Stadt erreichen? Dafür waren es viel zu viele.
Doch kaum hatte er diesen Gedanken in seinem Kopf, begannen die Buchstaben sich zu bewegen. Zuerst war es nur ein leichtes Zittern, das durch das Papier fuhr. Dann ruckelten die Buchstaben hin und her, bis sie schließlich aus dem Blatt heraus hüpften, auf das Fenster zu rannten und durch einen zugigen Spalt nach draußen in die Kälte entschwanden.
Der Geschichtenschreiber traute seinen Augen nicht. Das was er das gerade gesehen hatte, konnte doch unmöglich geschehen sein.
Unschlüssig blieb er an seinem Tisch sitzen und starrte immer wieder auf das leere Blatt Papier. Schon ging er davon aus, die letzten Minuten einfach nur geträumt zu haben. Weder die Feder konnte sich allein bewegt haben, noch die Buchstaben.
»Ich sollte in mein Bett verschwinden und lange schlafen. Danach wird es mir wieder besser gehen.«
Doch da klopfte es an der Tür. Ein paar Menschen, seine Nachbarn standen draußen.
»Wir haben gerade von deiner unglaublich schönen Geschichte erfahren. Sie hat uns so sehr das Herz angerührt, dass wir unbedingt zu dir kommen mussten, um uns dafür bei dir zu bedanken.«
Sie ließen sich auch nicht lange bitten und kamen einfach in die Stube herein. In den Händen hielten sie ein leckeres Mahl und eine Flasche Wein. Damit setzten sie sich an den Tisch und luden den Geschichtenschreiber zum Weihnachtsessen ein.
Kaum war die erste Gabel geleert, klopfte es wieder an der Tür. Erneut standen Menschen draußen in der Kälte. Auch sie hatten von der Geschichte gehört, die ihnen die laufen Buchstaben erzählt hatten.
Mit der Zeit füllte sich das Heim des Geschichtenerzählers mit immer mehr Menschen. Sie alle kamen zusammen, um gemeinsam mit ihm Weihnachten zu feiern. Denn dieses wundervolle Fest war einfach zu schade, um es allein zu feiern.
Von da an wurde jedes Jahr das Weihnachtsfest mit einer neuen Weihnachtsgeschichte begonnen und einem großen, gemeinsamen Essen beendet.

(c) 2019, Marco Wittler

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