834. Der alte Schausteller und der Sturm (Papa erklärt die Welt 47)

Der alte Schausteller und der Sturm
oder »Papa, was macht der Wind, wenn er nicht weht?«

Sofie saß im Garten unter dem großen Sonnenschirm und sah immer wieder in den blauen Himmel hinauf. Seit Stunden hing dort eine einzelne Wolke, die nicht vom Fleck bewegte.
»Die scheint sich hier wohl zu fühlen.«, scherzte Papa.
»Nee.«, widersprach ihm seine Tochter. »Die bewegt sich nicht, weil kein Wind da ist, der sie fortblasen könnte. Die Wolke kann das nicht allein.«
Papa nickte. »Ja, ohne den Wind geht das wohl wirklich nicht. Und wenn ich mir das Wetter anschaue, wird die Wolke noch eine ganze Weile über uns hängen bleiben.Sofie lehnte sich in ihrem Gartenstuhl zurück und dachte nach. Der Blick, den sie jetzt im Gesicht hatte, war Papa nur zu bekannt. Gleich würde sie wieder eine ihrer neugierigen Fragen stellen.
»Papa, was macht eigentlich der Wind, wenn er nicht weht
Papa kratzte sich am Kinn und überlegte.
»Das ist eine sehr gute Frage.«, antwortete er schließlich. »Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die ich erst kürzlich gehört habe. Sie handelt zufällig vom Wind, der keine Lust hatte, zu wehen. Die werde ich dir jetzt erzählen.«
Sofie strahlte über das ganze Gesicht.
»Oh ja, eine Geschichte.«
»Und wie fängt eine Geschichte immer an?«, fragte Papa.
Sofie lachte schon voller Vorfreude und antwortete: »Ich weiß es. Sie beginnt mit den Worten ›Es war einmal‹.«
»Ja, das stimmt. Absolut richtig. Also, es war einmal …«

Es war ungemütlicher Tag, der das ganze Land ergriffen hatte. Regen peitschte gegen Bäume, Häuser und auch Berge. Der Wind wehte pausenlos in stürmischen Böen über Wiesen und Felder, blies jeden um, der sich nicht rechtzeitig irgendwo festhalten konnte. Das war eindeutig ein Wetter, bei dem man nicht mal einen Hund vor die Tür schicken wollte. Dieser Meinung stimmten übrigens alle Hunde zu.
Der Einzige, der dem Sturm und dem Regen trotzte, war der alte Schausteller, der mit seinem Jahrmarkt in die Stadt gekommen war. In seinem festen Regenmantel und seinen hohen Gummistiefeln patschte er durch die immer tiefer werdenden Pfützen und verschloss seine Verkaufsbuden. Zuletzt war das Kettenkarussell dran, in dem sich eigentlich die Kinder der Umgebung austoben sollten. Doch daraus sollte heute nichts mehr werden.
Der Schausteller wollte gerade die flatternde Plane um das Karussell ziehen, als der kräftige Wind sie ergriff und davon wehte.
Auch das noch.
Doch plötzlich wurde es seltsam ruhig auf dem Jahrmarktsplatz. Der Sturm klang innerhalb weniger Sekunden komplett ab. Stille legte sich über die Stadt.
Der Schausteller sah sich misstrauisch um. Irgendwas war da faul. Was geschah hier nur?
Und dann rauschte der Wind wieder heran. Er war nicht mehr so stark wie vor ein paar Minuten. Ein paar Mal wehte er um das Karussell herum, mal in die eine, mal in die andere Richtung.
»Was geht hier vor sich?«, rief der alte Schausteller. »Was passiert hier?«
Der Wind umkreiste den Mann und säuselte ihm etwas ins Ohr.
»Darf ich bitte mit deinem Karussell fahren? Darf ich? Ich habe so oft welche gesehen aber nie benutzen dürfen.«
Der Schausteller wusste nicht, wie ihm geschah und nickte nur. Dann begann sich sein Karussell auch schon zu drehen. Das vergnügte Lachen des Windes war noch weit hinter den Grenzen der Stadt zu hören.

»Und dann hat der Wind nicht mehr geweht?«, fragte Sofie ungläubig.
Papa nickte. »Der Sturm und das Unwetter waren vorbei.«
»Das war eine sehr schöne Geschichte.«, sagte Sofie.
Papa war zufrieden als er das hörte. Doch dann fiel seiner Tochter noch etwas ein.
»Aber ich glaube dir trotzdem kein einziges Wort davon.«
Grinsend lehnte sie sich in ihrem Liegestuhl zurück und setzte ihre viel zu große Sonnenbrille auf. In diesem Augenblick wehte ein vergnügtes Lachen aus der Stadt herüber.

(c) 2020, Marco Wittler

Bild: OpenClipart-Vectors auf Pixabay

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*