962. Weihnachten beim Tierarzt

Weihnachten beim Tierarzt

»Auch wenn ich sie wirklich gern bei mir sehe, kommen sie bitte nicht so schnell wieder her.«, sagte Tierarzt Dr. Weller, als er seinen letzten Patienten und seine Besitzerin zur Tür begleitete. »Wir hatten dieses Jahr schon genug Behandlungen für ihren Bruno. Er wird sich bestimmt über eine längere Pause freuen.«
Bruno, bei dem es sich um einen älteren Golden Retriever handelte, gab ein zustimmendes Grunzen von sich. Jeder Tag ohne Tierarztbesuch, war ein guter Tag. Zuhause fühlte er sich wesentlich wohler.
»Falls es ihm aber trotzdem schlecht gehen sollte, ich habe dieses Jahr über die Feiertage Notdienst. Wegen der Corona Kontaktbeschränkungen kann ich meine Familie eh nicht über Weihnachten besuchen. Das wird das erste Mal, dass ich das Fest ohne meine Eltern verbringen werde. Das wird bestimmt ein ganz seltsames Gefühl sein.«
Brunos Besitzerin schenkte dem Tierarzt ein Lächeln, das unter ihrer Maske verborgen blieb, wurde deswegen rot im Gesicht und bedankte sich für die gute Behandlung ihres Vierbeiners.
Dr. Weller seufzte müde. Das war die letzte Patientin vor den Feiertagen gewesen. Seine vier helfenden Hände, dich ihm bei den Behandlungen täglich zur Seite standen, waren bereits in den Feierabend verschwunden. Er war nun allein in der Praxis.
»Es ist nicht mal Zeit geblieben, ihnen alles Gute zu wünschen. Dann muss dieses Mal eben eine Nachricht im Team-Chat ausreichen.«
Er setzte sich in den gemütlichen Sessel hinter der Rezeption, trank einen letzten Schluck des mittlerweile kalt gewordenen Kaffees und schaltete nacheinander die vielen Hauptschalter aus. Es wurde Stück für Stück dunkel in der Praxis.
»Feierabend. Wir sehen uns im neuen Jahr wieder, wenn kein Notfall dazwischen kommt.«
Er machte noch schnell ein paar Notizen in Brunos Krankenakte zur letzten Behandlung, bevor er sich dann selbst auf den Weg nach Hause machte. Dazu musste er nicht einmal in seinen Wagen steigen. Es reichte der Gang über die Treppe ins Obergeschoss.
Hinter der Wohnungstür hörte der Tierarzt bereits ein leises Winseln. Auf der anderen Seite wartete schon ganz ungeduldig sein kleiner Fellfreund.
»Ist ja gut, Felix. Ich bin gleich bei dir.«
Dr. Weller öffnete die Tür, breitete die Arme aus und fing den aufgedrehten Jack Russel Terrier auf, der es gar nicht mehr erwarten konnte, seinen liebsten Menschen im ganzen Gesicht abzuschlecken.«
»Prima. Ich danke dir. Jetzt muss ich nicht mehr unter die Dusche.
Weißt du was? Wir zwei machen uns jetzt ein paar schöne Tage zu zweit. Nur du und ich. Das wird bestimmt super gemütlich. Wir werden das Sofa am Besten gar nicht verlassen. Vielleicht stelle ich sogar den Kühlschrank ins Wohnzimmer. Dann müssen wir nur noch aufstehen, wenn die Blase drückt.«
Gemeinsam gingen sie in die Küche und kümmerten sich um die wichtigen Dinge des Abends: eine Schüssel Futter für Felix und eine große Tasse schwarzen Kaffee für den Doktor.
»Mh, sehr lecker. So muss ein guter Kaffee sein, stark, aromatisch und so schwarz wie der Himmel in einer Neumondnacht mit dicken Gewitterwolken über dem Kopf, meinst du nicht auch?«
Felix stimmte ihm zu, zumindest schmatzte er für ein Sekündchen etwas lauter.
Bevor sie den restlichen Abend tatsächlich auf dem Sofa verbrachten und bei einem nicht ganz so spannenden Film vor dem Fernseher einschliefen, hatten sie die frische Luft bei einem ausgedehnten Spaziergang genossen.

Am nächsten Morgen stand auf dem Kalender der heilige Abend. Nur zu gern hätte Doktor Weller ausgeschlafen. Aber Felix war da ganz anderer Meinung. Er hüpfte immer wieder auf der Bettdecke hin und her, bis sich sein großer Freund erbarmte und aus den Federn kroch.
»Du weißt doch, was ich meinen Patienten immer erzähle. Tiere gehören nicht mit ins Bett. Was meinst du wohl, was los ist, wenn sie herausbekommen, dass wir zwei ein schlechtes Beispiel abgeben? Dann lachen sie uns alle aus.«
Der Doktor gähnte laut, kratzte sich am Bauch und stand endlich auf.
»Ist ja gut. Ich komme. Wir können gleich raus gehen.«
Zehn Minuten später standen sie unter dem Vordach der Eingangstür. Pünktlich zum Weihnachtsfest war es wieder warm geworden. Statt des eh schon viel zu selten gewordenen Schnees, der noch vor ein paar Tagen die Erde weiß eingezuckert hatte, ergoss sich nun ergiebiger Regen vom Himmel und füllte munter jede noch so kleine Pfütze.
»Das ist definitiv kein Wetter, bei dem man einen Hund vor die Tür scheuchen sollte. Willst du es dir nicht noch einmal überlegen? Ich wäre ja dafür, einfach drin zu bleiben.«
Felix wollte es sich nicht noch einmal überlegen. Er war wie immer anderer Meinung, sprang die drei Stufen hinab und zog den Doktor an der Leine hinter sich her.
Während der halben Stunde, die sie durch die Siedlung gingen, sahen sie immer wieder, wie Familien zum Feiern zusammen kamen oder Weihnachtsbäume in den Stuben festlich geschmückt wurden.
»Wir machen es uns heute Abend auch schön, versprochen. Was hältst du davon, wenn wir uns nach Sonnenuntergang noch einmal in den Wald schleichen und uns einfach einen Baum holen?«
Der Doktor sah seinen Vierbeiner verschwörerisch an, ließ dann aber die Schultern hängen.
»Nein? Nicht? Du alter Spielverderber. Du bist einfach viel zu ehrlich für diese Welt. Und ich hatte damals wirklich gehofft, dass ich mit dir zusammen Pferde hätte stehlen können.«

Der Tag verging quälend langsam. Gelangweilt hatten Doktor und Hund auf dem Sofa verbracht. Nicht einmal der so sehr geliebte Kaffee hatte schmecken wollen.
»Weihnachten so ganz allein ist einfach nur blöd.«, beschwerte sich Dr. Weller. »Hast du eigentlich gewusst, dass an Heiligabend nichts Gescheites im Fernsehen läuft? Da habe ich schon so viele Sender und nirgendwo finde ich etwas, das uns gefallen könnte. Das ist doch zum Mäuse melken.«
In diesem Moment klingelte es.
»Wie? Was? Jetzt noch? Es ist gleich acht Uhr. Wer kann das denn sein?«
Irgendwer stand vor der Tür der Praxis und drückte immer wieder auf den Klingelknopf.
»Hoffentlich ist das kein Notfall. Ich bin mir felsenfest sicher, dass etwas wirklich Spannendes im Fernsehen läuft, sobald ich meinen Kittel angezogen habe.«
Der Doktor ging in den Flur, schaltete die Gegensprechanlage an und erkundigte sich nach dem Grund des Besuchs.
»Hallo Dr. Weller.«, war die Stimme einer Frau zu hören. »Hier ist Frau Schröder. Ich glaube, meinem Bruno geht es schon wieder nicht gut. Er röchelt so seltsam. Er kann nicht richtig atmen. Haben sie Zeit für uns. Ich habe Angst, dass ihm sonst noch etwas zustoßen könnte.«
Der Doktor seufzte leise und nickte, was seine Gesprächspartnerin allerdings nicht sehen konnte.
»Ich bin in zwei Minuten bei ihnen.«
Schnell zog er seinen Kittel über, ging die Treppe zur Praxis hinunter und öffnete die Tür.
»Dann kommen sie mal herein, Frau Schröder. Ich bin mir sicher, dass ich Bruno helfen kann. Ich werde ihn mir sofort anschauen. Es sollen doch schöne Feiertage werden.«
Frau Schröder grinste den Tierarzt an.
»Ich kann nicht herein kommen, aber vielleicht kommen sie zu uns heraus.«
Dr. Weller bekam einen verwirrten Gesichtsausdruck. Er verstand zunächst nicht, worum es ging.
»Was ist denn mit Bruno? Ist es so schlimm?«
»Ach, nein. Bruno geht es gut. Er ist sozusagen das blühende Leben. Kommen sie doch einfach mit mir mit.«
Der Doktor zuckte mit den Schultern, folgte Frau Schröder und fand sich auf dem Parkplatz seiner Praxis wieder.
Irgendwer hatte dort die alte Tanne mit bunten Kugeln und unzähligen elektrischen Kerzen geschmückt. Vor dem Baum standen, mit passendem Sicherheits- und Hygieneabstand, seine Patienten mit ihren Besitzern.
Es waren bestimmt zehn Hunde, die ihn anblickten und nicht sicher waren, ob sie mit dem Schwanz wedeln oder am ganzen Körper zittern sollten. Daneben stand sogar noch Zuchtbulle Eduard, auf dessen Rücken Landwirt Rüdiger hierher geritten war. Auf seinem Schoß schlief gemütlich ein kleines, rosa Ferkel.
»Nein! Das glaube ich einfach nicht.«, entfuhr es dem Doktor und ließ ihn mit den Händen über seine Augen reiben. »Was macht ihr denn alle hier? Solltet ihr denn nicht Zuhause Weihnachten feiern?«
»Fröhliche Weihnachten, Doktor!«, ertönte es von den Menschen auf dem Parkplatz wie aus einem Mund.
»Wir haben uns gedacht, dass wir ihnen mit unserem Besuch eine kleine Freude machen können.«, erklärte Frau Schröder. »Wir wissen doch alle, dass sie dieses Jahr die Feiertage allein verbringen müssen. Gemeinsam feiert es sich aber einfach viel schöner.«
Der Doktor sah sich unsicher um. Geschah das alles wirklich?
»Und was ist, wenn wir erwischt werden? Wir sind doch jetzt mehr als zwei Haushalte.«
Er hörte ein lautes Räuspern. Hinter der großen Tanne kam Dorfpolizist Paul hervor, der einen Becher Punsch in der einen und die Leine seines Hundes Marius in der anderen Hand hielt.
»Keine Sorge.«, sagte er mit einem breiten Grinsen. »Ist alles im Rahmen des Erlaubten. Die Polizei achtet auf die festgelegten Mindestabstände.«
Dr. Weller wusste gar nicht, was er sagen sollte. Diese wundervolle Geste seiner geliebten Patienten war das schönste Geschenk, das man sich zu Weihnachten wünschen konnte.
»Dann bleibt mir ja nur noch eines zu sagen: Frohe Weihnachten euch allen. Ich hoffe, dass ich euch in meiner Praxis nur ganz selten sehen muss.«

© 2020, Marco Wittler

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