Auf der Suche nach dem verlorenen Licht – Kapitel 01

In der Geistermine

Während sich die rot glühende Scheibe der Sonne langsam unter den Horizont verkroch und sich die Dunkelheit wie eine dicke Decke über den Himmel legte, betraten Sofie und Papa wagemutig die alte Silbermine in den Bergen. Finsternis umfing die Beiden. Auf den ersten Metern war kaum etwas zu erkennen. Erst hinter der nächsten Ecke hingen Fackeln an der Wand, die ein spärliches Licht spendeten.
»Hier ist es ganz schön gruselig. Bist du dir sicher, dass du weitergehen möchtest?«
Sofie nahm Papas Hand, tätschelte sie beruhigend und blickte ihm in die Augen. »Mach dir bitte keine Sorgen. Du musst wirklich keine Angst haben. Die Wesen in einer Geisterbahn sind nicht echt. Das sind nur Puppen, die von Maschinen bewegt werden.«
Papa schluckte schwer, atmete ein, zwei, drei Mal tief ein und aus und nickte schließlich. »Dann ist es ja gut. Ich wollte nur sicher gehen, dass es dir hier drin gut geht.«
Sie setzten ihren Weg fort, passierten zwei weitere Ecken und blieben schließlich stehen, als sie das Ende der wartenden Menschenschlange erreichten. Hier standen mindestens zwanzig Personen, die alle mit der Geisterbahn fahren wollten.
Papa begann zu schwitzen und sah sich immer wieder unsicher um. Er rechnete jeden Moment damit, dass ein Monster aus seinem Versteck springen und ihn vor den Augen seiner Tochter fressen würde.
Genau in diesem Moment öffnete sich neben ihm in der Felswand eine versteckte Klappe. Drei Geister, die wie alte Bettlaken mit ausgeschnittenen Augenlöchern aussahen und von innen heraus leuchteten, schwebten von der einen zur anderen Tunnelseite und verschwanden dort hinter einer weiteren Klappe.
Papa begann schwer zu atmen. Er legte sich die linke Hand auf seine Brust, die andere vor seine Augen. »Ich … ich … ich muss hier raus. Das ist mir viel zu gruselig.«
Wieder griff Sofie nach einer seiner Hände. »Du schaffst das schon. Du bist ein großer und tapferer Papa.« Sie lächelte ihn an. »Es wäre schon schön, wenn ich mit der Geisterbahn fahren könnte, aber wenn es dir dabei nicht gut geht, ist es für mich auch in Ordnung, wenn wir umdrehen und Karussell fahren.«
Papa war kurz davor, ihren Vorschlag anzunehmen, doch dann schüttelte er den Kopf. »Ich schaffe das schon. Ich brauche nur etwas, das mich ablenkt.«
Sofie nickte. »Da fällt mir bestimmt etwas ein.« Sie legte die Stirn in Falten, tippte sich ein paar Mal mit dem Zeigefinger gegen die Wange und die Nasespitze. Papa wusste sofort, was nun geschehen würde.
»Papa, warum haben die Geister vorhin geleuchtet? Leuchten alle Geister? Ist das nicht gefährlich für sie? Sie könnten dann viel schneller gesehen und eingefangen werden.«
Papa hielt inne, kratzte sich am Kinn und dachte nach.
»Das ist eine wirklich gute Frage.« Schon war er abgelenkt und vergaß seine Angst. »Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die ich zufällig vor Kurzem gehört habe. Sie handelt von Geistern und ihrem Licht. Die werde ich dir jetzt erzählen.«
Sofie strahlte über das ganze Gesicht.
»Oh ja, eine Geschichte.«
»Und wie fängt eine Geschichte immer an?«, fragte Papa.
Sofie lachte schon voller Vorfreude und antwortete: »Ich weiß es. Sie beginnt mit den Worten …«
Die Frau, die sich in der Schlange vor ihnen befand, drehte sich um und grinste breit. »Es war einmal?«
»Ja, das stimmt. Absolut richtig.«, bestätigte Papa. »Also, es war einmal …«
Nun drehten sich auch die anderen Wartenden um. Sie alle waren schon gespannt, was Papa ihnen nun erzählen würde.

Es war einmal ein großer, finsterer Wald, in dessen Mitte sich eine kleine Lichtung befand. Zwischen grünen Gräsern wuchsen hier in unregelmäßigen Abständen Blumen mit weißen Blüten, aus denen man ein leises Schnarchen hätte hören können, wenn man aufmerksam gelauscht hätte. Mit dem Sonnenuntergang begann die Nacht. Als der erste Lichtstrahl des Vollmondes auf die Lichtung traf, öffneten sich die Blüten. Die Schläfer, die sich über den Tag in ihnen versteckt gehalten hatten, erwachten.

(c) 2025, Marco Wittler

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